
Volksanwaltschaft, Behindertenanwalt, Monitoringausschuss und Zivilgesellschaft fordern Regierung und Parlament auf, die Anliegen von Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen und ihre Inklusion in die Gesellschaft voranzutreiben. Sie zeigen die größten Hürden auf und stellen ihre weitreichende Expertise zur Verfügung.
Gleiche Chancen und gleiche Rechte für Menschen mit Behinderungen werden als Menschenrecht zwar allgemein anerkannt, die gesellschaftspolitische Realität offenbart jedoch noch zahlreiche Defizite und Missstände. Die Volksanwalt Günther Kräuter richtete daher bereits im Oktober des Vorjahres gemeinsam mit Behindertenanwalt Hansjörg Hofer, der Vorsitzenden des Montoringausschusses Christina Wurzinger und Martin Ladstätter von Selbstbestimmt Leben Österreich fünf zentrale Forderungen für Menschen mit Behinderungen an die neue Regierung.
Am 30. Jänner eröffnete die Volksanwaltschaft einen Dialog mit den Behindertensprecherinnen und sprechern aller Parlamentsfraktionen, um Status quo und Perspektiven gemeinsam zu besprechen. Volksanwalt Günther Kräuter: „Wir wollen einen Schulterschluss für eine nachhaltige Verbesserung der Rechte und Chancen von Menschen mit Behinderungen – über Institutionen und Parteigrenzen hinweg. Nur gemeinsam können die nötigen Reformen gelingen.“ Die Volksanwaltschaft betrachte sich in diesem Prozess als Plattform für Institutionen, NGOs und Selbstvertreter.
Behindertenanwalt, Monitoringausschuss, Martin Ladstätter (Selbstbestimmt Leben Österreich), Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrats und Volksanwaltschaft haben zudem das neue Regierungsprogramm evaluiert. Gemeinsames Fazit: „Für Menschen mit Behinderungen bedeutet das Programm der neuen Regierung in vielen Bereichen leider einen Rückschritt, etwa betreffend Inklusion an Schulen und Integration im Arbeitsbereich.“
Zentrale Forderungen zum Nationalen Aktionsplan 2020-2030
Da der derzeitige Nationale Aktionsplan Behinderung den Zeitraum 2012 bis 2020 umspannt, muss für die Dekade 2020 bis 2030 ein neuer Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen erstellt werden. „Wir sollten die Zeit bis 2020 nutzen und jetzt mit allen Stakeholdern an einem neuen Aktionsplan arbeiten“, so Behindertenanwalt Hofer.
- Partizipativer Prozess unter Einbindung von Menschen mit Behinderungen und deren Interessenvertretungen
- Konkrete Maßnahmen mit klaren Indikatoren
- Einbeziehung der Bundesländer
- Angaben zur Finanzierung der Maßnahmen
Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt
Trotz sehr guter Konjunktur und obwohl die allgemeine Arbeitslosigkeit bereits sinkt, steigt die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen noch immer an. Derzeit sind knapp 80.000 Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen (Begrifflichkeit des AMS) arbeitslos gemeldet, das entspricht rund 21 % aller Arbeit suchenden Menschen. „In dieser Situation müssen verstärkt Schritte für die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderungen gesetzt werden“, sagt Hofer und fordert die
- Schaffung einer eigenen Zielgruppe „Menschen mit Behinderungen“ im AMS und die
- Halbierung der Lohnnebenkosten für neu eingestellte Menschen mit Behinderungen für die Dauer von zwei Jahren
Lohn statt Taschengeld
Rund 24.000 Menschen mit schwerer Behinderung sind in Werkstätten der Beschäftigungstherapie tätig. Diese Personen sind lediglich unfallversichert, verfügen aber über keine eigenständige Kranken- oder Pensionsversicherung und gelten nicht als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie können demnach keine Eigenpension erwerben und verbleiben lebenslang auf dem Status von Waisen. Dies widerspricht der in Österreich seit 2008 anzuwendenden UN-Behindertenrechtskonvention. Dringend geboten ist daher die
- Schaffung einer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung
- Mittelfristig: Annäherung an ein Beschäftigungsverhältnis
Häufig wird bei Menschen mit Behinderungen schon in sehr jungen Jahren „Arbeitsunfähigkeit“ festgestellt, was dazu führt, dass diese Menschen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind und auf Angebote der Beschäftigungstherapie beschränkt werden. Zur Vermeidung des meist irreversiblen Ausschlusses vom allgemeinen Erwerbsleben müssen.
- die Sachverständigen besser über die existierenden Unterstützungsstrukturen Bescheid wissen
- Feststellungen der definitiven „Arbeitsunfähigkeit“ sollen mindestens zwei Jahre einer Erprobung in arbeitsmarktnahe Projekte vorangehen
„Arbeit ist in unserer Gesellschaft ein essentieller Bestandteil der vollen Teilhabe“, so Behindertenanwalt Hofer, „wenn man Menschen mit Behinderungen davon ausschließt, macht man Inklusion unmöglich.“
Maßnahmenvollzug
Durch die Ratifizierung der UN-BRK hat sich Österreich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt zu behandeln. Dies gilt auch für den Bereich der Freiheitsentziehung.
Ein wichtiges Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung. Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, die eine Straftat begangen haben, erhalten entweder eine Maßnahme mit therapeutischem Schwerpunkt oder eine Strafe in Kombination mit einer Therapie. Sie werden im Maßnahmenvollzug untergebracht.
Der Monitoringausschuss verweist auf die zahlreichen menschenrechtlichen Herausforderungen, die es in diesem Bereich zu bewältigen gibt. „Insbesondere muss das Ziel der Resozialisierung auch im Maßnahmenvollzug ernst genommen werden“, so die Vorsitzende des Monitoringausschusses Christina Wurzinger. Dies übersieht das aktuelle Regierungsprogramm völlig. Aufgrund des Bekanntwerdens massiver Missstände im Maßnahmenvollzug war im Justizministerium bereits seit mehreren Jahren eine Arbeitsgruppe mit der Verbesserung der Bedingungen in diesem Bereich beschäftigt. Die neue Regierung wird aufgefordert die gesetzten Anstrengungen weiterzuführen. „Insbesondere ist dabei die Einbeziehung von Selbstvertretungsorganisationen zu berücksichtigen. Diese ist nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern auch enorm hilfreich“, so Wurzinger.
- Menschen dürfen nicht allein aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung eingesperrt werden.
- Therapie und Resozialisierung müssen auch im Maßnahmenvollzug an vorderer Stelle stehen.
- Es braucht eine Reform der Einweisungskriterien mit transparenten Standards für die Begutachtungen.
- Es muss ein Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen gesetzt werden.
Bildung
Das neue Regierungsprogramm beinhaltet den Ausbau der Sonderschulen. Das ist problematisch, weil dieser Ansatz der in der UN-Behindertenkonvention geforderten Inklusion widerspricht. Der Monitoringausschuss begleitet den Prozess der Umsetzung der UN-Konvention in Österreich. Zum Stand der Umsetzung wird es 2019/2020 wieder einen Staatenbericht geben, an dem Vertreter zahlreicher NGO beteiligt sind. Der im aktuellen Regierungsprogramm angekündigte Ausbau der Sonderschulen wird dort jedenfalls auf viel Kritik stoßen. Österreich wird einen hohen Rechtfertigungsbedarf haben.
„Die Debatte orientiert sich an längst überwunden geglaubten altmodischen Konzepten und stellt definitiv einen Rückschritt zu Lasten von Schülerinnen und Schülern dar“, kritisiert die Vorsitzende des Monitoringausschusses Christina Wurzinger. Schule muss gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche bieten.
Dem Ausbau der Sonderschulen kann auch der Präsident des Österreichischen Behindertenrates Herbert Pichler nichts abgewinnen. „Ich habe selbst eine Sonderschule besucht und musste dann im zweiten Bildungsweg alles mühsam nachholen. Ohne Sonderschulen wären viel weniger Menschen in Beschäftigungstherapie“, berichtet Pichler aus seiner eigenen Erfahrung.
Darüber hinaus fordert der Österreichische Behindertenrat, dass das Sozialministeriumservice als Anlaufstelle in den Ländern erhalten bleibt: „Im Regierungsprogramm steht, dass das Sozialministeriumsservice in die mittelbare Bundesverwaltung kommen soll. Das wäre für uns fatal, weil die Regelungen in den Bundesländern dann wieder sehr unterschiedlich wären“, so Pichler.
Persönliche Assistenz
Eine Forderung, die Martin Ladstätter von Selbstbestimmt Leben Österreich unterstreicht: „Das Bundessozialamt in die Bundesländer zu verschieben, ist keine gute Idee. Die persönliche Assistenz ist das beste Beispiel: Wir haben hier neun verschiedene Regelungen.“ Ladstätter wünscht sich bei der persönlichen Assistenz eine bundesweit einheitliche Regelung und betont, dass es sich dabei nicht um ein Nischenproblem handle, sondern dass sie ein essentieller Bestandteil bei der Umsetzung von Art 19 BRK ist.
„Es ist erfreulich, dass im Regierungsprogramm mehrfach die Notwendigkeit der Persönlichen Assistenz angesprochen wird. Wesentlich ist aber nicht nur eine Vereinheitlichung, sondern vor allem die bedarfsgerechte Ausgestaltung, damit alle behinderten Menschen, die Persönliche Assistenz benötigen, diese auch erhalten.“
Des Weiteren vermissen Selbstvertreter im Regierungsprogramm auch Schritte zur DeInstitutionalisierung. „Zu einem selbstbestimmten Leben in der Gesellschaft gehört auch das eigene Wohnumfeld. Zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gehört daher auch eine De-Institutionalisierung – also der Abbau von Heimen,“ so Ladstätter. Menschen mit Behinderungen sollen gemeindenah und nach individuellem Bedarf wohnen können, die Unterbringung in Großheimen entspricht nicht den menschenrechtlichen Standards. In großen Einrichtungen kann das Personal kaum auf individuelle Wünsche und Bedürfnisse eingehen. Ein selbstbestimmtes Leben ist dort nicht möglich.
Behindertenanwalt, Monitoringausschuss, Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrats und Martin Ladstätter (Selbstbestimmt Leben Österreich) sowie die Volksanwaltschaft stehen mit ihrer weitreichenden praktischen und theoretischen Expertise für eine Evaluierung, weitere Diskussionen und Kooperationen gerne zur Verfügung.