Lebenshilfe, Österreichischer Behindertenrat und Behindertenanwaltschaft fordern Partizipation, Beteiligung und Absicherung von Menschen mit Behinderungen
Der 5. Mai ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Lebenshilfe, Österreichischer Behindertenrat und Behindertenanwaltschaft nahmen diesen Tag zum Anlass, um in der heutigen Pressekonferenz auf die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen. Die Corona-Zeit zeigt, dass Krisen oft Ungleichheiten und Ausgrenzungsmechanismen verstärken. Die Podiumsdiskutant*innen gaben Einblicke aus Sicht der Selbstvertretung, Angehörigen und Behindertenorganisationen und forderten die Regierung zu konkreten Schritten auf. Denn besonders jetzt ist Inklusion wichtig. Partizipation, Beteiligung und Absicherung sind dabei drei Schlüsselbegriffe. Nur wenn diese gegeben sind, kann ein menschenwürdiges und chancengleiches Leben von Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden.
Am Podium: Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe Österreich • Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates • Hansjörg Hofer, Behindertenanwalt • Georg Willeit, Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol • Friederike Pospischil, Präsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich • Hanna Kamrat, Vizepräsidentin und Selbstvertreterin der Lebenshilfe Österreich.
Teilhabe und Inklusion statt Ausschluss und Diskriminierung
Selbstvertreter*innen, Angehörige und Behindertenorganisationen wurden in der Corona-Zeit oft außer Acht gelassen. Sie sind mitten im Geschehen und werden trotzdem übersehen. Behindertenanwalt Hansjörg Hofer: Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Rechte und Bedarfe von 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich noch immer nicht ausreichend wahrgenommen werden.
Lebenshilfe-Präsident Germain Weber fügt hinzu: In den letzten sechs Wochen beobachteten wir einen neuen Ausschluss von Menschen mit Behinderung in gesellschaftlichen Entwicklungen. Menschen mit Behinderungen wurden in den Kreisen, die diese Entscheidungen vorbereitend begleitet haben, einfach vergessen. Diese Pressekonferenz zum Tag der Inklusion soll ein Anstoß für Politik und Medien sein, sich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung in der Zeit von Corona nicht weiter zu verschließen und somit Diskriminierungen gegenüber dieser Gruppe in dieser Zeit entgegenzuwirken.
Hürden im Corona-Alltag
Die kaum bis nicht vorhandene persönliche Assistenz, fehlende Begleitung von vertrauten Personen zu Spitälern, die notwendige Unterstützung im Alltag und die mangelhafte Schulung im Umgang mit technischen Hilfsmitteln sind nur einige Beispiele der Hürden, denen Menschen mit Behinderungen im Corona-Alltag begegnen. Die richtige Unterstützung und Assistenz sind ausschlaggebend, um die Teilhabe zu gewährleisten und einer Vereinsamung vorzubeugen. Ganz wichtig ist, dass Menschen mit höchstem Unterstützungsbedarf auch in Zeiten wie der Corona-Krise ihre persönliche Assistenz behalten können und dafür ausreichend finanziert sind. Im Bedarfsfall, z.B. bei Quarantäne, sind sie ganz besonders darauf angewiesen von vertrauten Personen wie Angehörigen oder Assistenz begleitet und betreut zu werden
, so Hanna Kamrat, Vizepräsidentin und Selbstvertreterin der Lebenshilfe Österreich. Sie fügte hinzu: Einzel-Isolation in jeder Form, ohne Kontakt zu vertrauten Personen, fördert nicht die Genesung, sondern die Erkrankung. Nicht Isolation sondern Inklusion ist der Schlüssel zur Gesundheit. Das heißt, es müssen geregelte Strukturen und Finanzierungsprogramme für Krisenzeiten speziell auf die Bedarfe der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf abgestimmt erarbeitet werden. Es braucht genaue Einzelfall-Regelungen, z.B. für Assistenzleistungen mit variablen Stundenkontingenten, wo Erhöhungen jederzeit unbürokratisch und finanzierbar möglich sind.
Pflegende Eltern und Angehörige – die übersehenen Held*innen
Friederike Pospischil, Präsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich und Mutter eines Sohnes mit Behinderung sprach über die Leistungen von Angehörigen von Menschen mit Behinderungen, die jedoch kaum bis gar nicht wahrgenommen werden. Eltern und Angehörige leisten zurzeit seit beinahe zwei Monaten rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche Unglaubliches. Egal ob sie Kleinkinder, Schulkinder, junge Menschen oder erwachsene Menschen mit Behinderungen jetzt ohne Hilfe zu Hause begleiten und betreuen, eines ist ihnen gemeinsam: Sie fühlen sich nicht gehört, nicht gesehen und kommen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor.
Sicherheit und Gesundheit sind ihre zwei großen Forderungen. Sicherheit, dass unsere Kinder gesund durch die Krise kommen. Sicherheit, dass Betreuungsplätze auch über längere Zeit freigehalten werden, auch wenn die Abwesenheit längere Zeit dauern wird. Sicherheit, dass die Plätze von der öffentlichen Hand weiter finanziert werden, damit die Organisationen nicht in finanzielle Schwierigkeiten kommen.
Zurzeit fehlt es an Krisenplänen und Perspektiven für die weitere Vorgehensweise. Besonders Eltern von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sind stark davon betroffen. Durch Grunderkrankungen gehören sie oft zur Risikogruppe und damit ist eine Rückkehr in die Tagesstruktur wohl noch für eine längere Zeit keine Option.
„Neue Normalität“ ist nicht für alle gleich
Doch nicht nur Angehörige und Menschen mit Behinderungen fordern Sicherheit. Sondern auch die Behindertenorganisationen. Die Krise hat gezeigt, dass Behindertenorganisationen systemrelevant sind. Obwohl es nicht allen Bundesländern bewusst war, sollte es nun klar geworden sein. Doch die Verantwortung kann nicht allein von den Trägern übernommen werden. Es braucht eine organisatorische und finanzielle Absicherung – und zwar jetzt. Das finanzielle Zittern muss beendet werden, es braucht eine einheitliche finanzielle Absicherung. Es hätte eine flächendeckende Versorgung mit Schutzausrüstung gebraucht. In einigen Bundesländern waren wir völlig auf uns gestellt. Und das obwohl wir einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet haben, in dem wir zur potentiellen Entlastung des Gesundheitswesens z.B. eigene Notquartiere eingerichtet haben
erläutert Georg Willeit, Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol und Vizepräsident der Lebenshilfe Österreich.
Zusätzlich bringen die Lockerungen der Verordnungen neue Herausforderungen. Wo ein Großteil der Bevölkerung aufatmet und neue Freiheiten genießt, entstehen bei den Lebenshilfen neue rechtliche Grauzonen. Willeit dazu: Dürfen die Lebenshilfen Isolierstationen weiterführen? Welche Haftungsrisiken bestehen für die Träger, wenn sie versuchen, die notwendigen Assistenzleistungen Schritt für Schritt wieder anzubieten, bevor ein Impfstoff gefunden ist? Wie ist das im Zusammenhang mit der Einschränkung der persönlichen Freiheiten zu betrachten? Und dann braucht es z.B. für eine optimale Versorgung in Krankenhäusern Konzepte und Policies, die gemeinsam mit Betroffenen und Experten-Organisationen erarbeitet werden.
Auf diese Fragen braucht es dringend Antworten vonseiten der Regierung, die gemeinsam mit der Expertise von Menschen mit Behinderungen und Behindertenorganisationen ausgearbeitet werden.
Dies betont auch Behindertenanwalt Hofer: Was es braucht, ist die Einbindung der Betroffenen in die Planung und Umsetzung aller Maßnahmen ab der ersten Stunde und nicht erst nach vielen Wochen!
Gerade für die weiteren Arbeiten in der Zukunft fordert Hofer: Barrierefreiheit ist auch 14 Jahre nach der gesetzlichen Verpflichtung noch immer nur teilweise verwirklicht; selbst öffentliche Gebäude sind vielfach für Menschen mit Behinderungen, für ältere Menschen oder für Eltern mit Kinderwägen nicht nutzbar. Die Herstellung von Barrierefreiheit schafft und sichert Arbeitsplätze! Es dürfen in Zukunft keine öffentlichen Gelder fließen, wenn das Vorhaben nicht zu hundert Prozent barrierefrei ist.
Gemeinsam entscheiden und an einem Strang ziehen
Die Einbindung von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen in Krisenstäben, Gremien und Expert*innen-Runden ist die Voraussetzung für ein gelungenes und flächendeckendes Krisenmanagement, welches den Test der Zeit besteht. Diese hat besonders in den ersten Wochen der Krise gefehlt und erst jetzt wird langsam diese Expertise eingeholt.
Die Expertise von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen muss in dieser Corona-Krise gehört und auf Augenhöhe in Entscheidungen einbezogen werden. Sie halten gerade am meisten Einschränkung, Isolation und Lebensveränderung aus und werden auch weiterhin Durchhaltevermögen zeigen müssen
, so Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates. Der einzige Plan, den es aktuell gibt, scheint ‚Separierung‘ für Menschen mit Behinderungen vorzusehen. Doch es braucht jetzt einen Plan B und für die Zukunft einen Plan für eine zweite Welle, mit einer Balance aus Schutz und Freiheit. Dieser muss unter Einbezug der Menschen mit Behinderungen gestaltet werden.
Nur so können nicht nur in naher Zukunft, sondern auch im Falle einer zweiten Corona-Welle bundeseinheitliche Regelungen, Teilhabe und Rechtssicherheit gewährleistet werden.