Barrierefreiheit und die Zukunft der Arbeit: die Rolle der Digitalisierung
Bericht und Zusammenfassung: Gudrun Eigelsreiter
Organisation: EDF (Europäisches Behindertenforum) und Microsoft
Teilnehmende Organisationen: ILO (Internationale Arbeitsorganisation), Vertreter*innen der EU-Kommission und der Wirtschaft, Mitgliedsorganisationen des EDFs und Selbstvertreter*innen
Zum Thema: Seit der COVID-19 Pandemie hat das digitale Arbeiten und Lernen von zu Hause weltweit stark zugenommen. Die Ermöglichung von Homeoffice (Heimarbeit) und der dafür notwendigen digitalen Struktur durch Arbeitgeber*innen hat zu einer Erleichterung bei vielen Arbeitnehmer*innen geführt, auch bei jenen mit Behinderungen.
Zum Inhalt: Auf dem zweitägigen Barrierefreiheitsgipfel wurde die Verschränkung der Digitalisierung mit der (zukünftigen) Arbeitswelt besprochen und deren Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen. Die Beschleunigung der Digitalisierung ist eine Chance, um sicherzustellen, dass tatsächlich niemand zurückgelassen wird. Dafür müssen sowohl die politischen Entscheidungsträger*innen, als auch die Tech-Konzerne und die Wirtschaft für Rahmenbedingungen sorgen, die dies auch ermöglichen.
Der Präsident des EDFs Yannis Vardakastanis dazu: „Ziel im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien ist sicherzustellen, dass diese Technologien verfügbar, kostengünstig und barrierefrei sind.“
Helena Dalli, die erste EU-Kommissarin für Gleichstellung dazu: „Wir brauchen eine Vision für ein inklusives und barrierefreies Europa. Beschäftigung und Barrierefreiheit sind Schlüsselelemente der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.“
Casper Klynge, Vize-Präsident von Microsoft für Europäische Regierungsangelegenheiten: „Einige Menschen mit Behinderungen haben auch ihren Arbeitsplatz verloren, aufgrund der Schwierigkeiten mit der Bereitstellung von barrierefreiem Equipment für die Heimarbeit. Auch der Mangel an den notwendigen finanziellen und technischen Ressourcen, an Unterstützung, an Barrierefreiheit und die fehlende Bereitstellung an digitaler Infrastruktur durch die Arbeitgeber*innen hat dazu beigetragen.“ In den Wiederaufbauplan der EU setzt er die Hoffnung, dass er als Möglichkeit genutzt wird den Wiederaufbau tatsächlich inklusiv und barrierefrei zu gestalten. Das Engagement von Microsoft für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen sieht er als wichtigen und erfolgreichen Bestandteil der Unternehmenskultur.
Auch in der Diskussionsrunde von Arbeitnehmer*innen mit und ohne Behinderungen wurden die Vorteile einer inklusiven Arbeitswelt und von der barrierefreien Gestaltung der Digitalisierung thematisiert.
Kate Nash, CEO von „PurpleSpace“ (https://www.purplespace.org/ ), dem weltweit einzigen Netzwerk- und beruflichen Entwicklungszentrum für Arbeitnehmer*innen mit Behinderungen sowie für Ressourcengruppenleiter und Verbündete aus allen Sektoren, leitete das Gespräch mit Fragen an die drei Diskussionsteilnehmer:
- Bianca Prins, Globale Leiterin für Barrierefreiheit bei ING,
- Arthur Manders, Strategie- und Integrationsberater bei Shell Inc. und
- Michael Vermeersch, verantwortlich für die digitale Inklusion bei Microsoft.
Kate Nash: „Um eine bessere und barrierefreie, digitale Arbeitswelt für Mitarbeiter*innen zu schaffen, müssen wir mutig unsere Geschichten über Behinderungen erzählen und mit anderen teilen. Organisationen, die bei der digitalen Inklusion gut abschneiden, sind nämlich diejenigen, die sich routinemäßig dafür entschieden haben, direkt von ihren eigenen Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zu lernen.“
Während dieser Sitzung teilten die Podiumsteilnehmer*innen ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiter*innen mit angemessen gestalteten Arbeitsbereichen und barrierefreier Technologie. Außerdem waren sie sich einig, dass die Schaffung einer solchen Umgebung für beide Seiten vorteilhaft ist, denn sie befähigt die Mitarbeiter*innen und ermöglicht es ihnen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen – davon profitieren dann auch die Unternehmen.
Hector Minto von Microsoft stellte die Barrierefreiheitsstrategie von Microsoft auf der Grundlage von drei Säulen vor:
- erschwingliche Technologie,
- Talententwicklung und
- integrativer Arbeitsplatz
und betonte, dass es bei Barrierefreiheit darum geht, dass wir alle die Vorteile erkennen, die Menschen mit Behinderungen für Unternehmen bringen.
Caroline Casey, Aktivistin und die Gründerin von „The Valuable 500 – Disability is your business“ (https://www.thevaluable500.com/ ) gab zu bedenken, dass Barrierefreiheit ein gesellschaftliches Thema ist. Mangelnde Barrierefreiheit ist also nicht nur ein Problem der Menschen mit Behinderungen, sondern unser aller Problem, um das wir uns kümmern müssen. Dass Barrierefreiheit und Menschen mit Behinderungen als Teammitglieder viele Vorteile für Unternehmen mit sich bringen, müsse auch bei den Führungskräften ankommen. Sie betonte auch, dass Geschäftssysteme änderbar sind und wir mehr Führungskräfte mit gelebter Behinderungserfahrung sehen müssten. Denn nach wie vor sind Menschen mit Behinderungen stark unterrepräsentiert in Sitzungssälen und Vorständen von Unternehmen. Das Ziel von „The Valuable 500“: als globale Bewegung Behinderung auf die Agenda von Unternehmensführungen zu setzen.
In einem Gespräch über EU-weite Barrierefreiheit zwischen Alejandro Moledo (EDF) und Jenny Lay-Flurrie, der leitenden Barrierefreiheitsbeauftragten bei Microsoft (https://news.microsoft.com/stories/people/jenny-lay-flurrie.html ) wurden die Ambitionen von Microsoft für Europa und Menschen mit Behinderungen besprochen. Schlüsselelemente dabei seien die Einbeziehung aller Interessengruppen, die Investition in Kompetenzen, die Schlüsselrolle der Führungsebene und dass Menschen mit Behinderungen sowohl auf Führungsebene als auch in diversen Teams in der Belegschaft von Unternehmen vertreten sein sollten. Ein zentrales Thema der Diskussion war, die Bedeutung
von nachhaltiger Barrierefreiheit. Um diese zu erreichen, muss man eine Kultur im Betrieb etablieren, in der Barrierefreiheit als gemeinsames Ziel vorangetrieben wird, da so auch Mitarbeiter*innen mit Behinderungen genauso wie die anderen Mitarbeiter*innen teilhaben und ihre Fähigkeiten optimal einsetzen können. Frau Lay-Flurrie merkt an, dass es viele Menschen mit Behinderungen gibt, die nicht die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Sie hofft, dass Menschen mit Behinderungen eines Tages die gleichen Beschäftigungs-, Bildungs- und Absolventenquoten wie die Gesamtbevölkerung erreichen zu können. Jenny Lay-Flurrie dazu: „Wenn Sie Mitarbeiter*innen mit Behinderungen stärken, erzielen Sie eine höhere Produktivität, schnellere Innovation und eine bessere, integrative Organisation.“
Am zweiten Tag des Barrierefreiheits-Gipfels stand die Zukunft der Arbeit im Mittelpunkt. Zentrale Themen der ersten Diskussionsrunde waren dann auch neben der Zukunft der Arbeit, die voranschreitende Digitalisierung und die Rolle der EU.
Moderation: Pat Clarke Vizepräsident des EDFs
Teilnehmer*innen:
- Elise Hoekstra, Director Enterprise Channel Sales bei Microsoft,
- Dragoș Pislaru Abgeordneter des EU-Parlamets (Rumänien, Renew Europe),
- Neil Milliken, Leiter von “Accessibility & Digital Inclusion”, Atos und
- Stefan Trömel, Senior Spezialist für das Thema Behinderung bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).
Pat Clarke unterstrich nochmal die starke Veränderung des Arbeitslebens durch die COVID-19-Krise, die den Übergang zur Heimarbeit/Homeoffice und die zunehmende Nutzung digitaler Plattformen beschleunigt hat. Dies kann sowohl eine Chance als auch ein Hindernis sein, wenn wir an die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen denken.
Elise Hoekstra, betonte, dass es hier nicht nur um die Gewährleistung der Barrierefreiheit von Technologie, sondern auch um eine inklusive Arbeitsplatzkultur gehe. „Man schließt Menschen mit Behinderungen absichtlich aus, wenn man sie nicht absichtlich einbezieht.“
Dragoș Pislaru sicherte seine Unterstützung bezüglich der Umsetzung der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Europa zu und sein Engagement, in seiner Arbeit als Mitglied des Europäischen Parlaments, um echte Veränderungen zu erreichen. Die Zukunft der Arbeit und die Digitalisierung seien seiner Meinung nach untrennbar miteinander verbunden. Um sicherzustellen, dass alle Bürger*innen von diesem Wandel profitieren können, brauchen sie die nötigen Ressourcen und Kompetenzen, sowie barrierefreie Technologie. Während uns die Krise in dieser digitalen Zukunft schnell verfolgt hat, besteht auch die Gefahr, dass die digitale Kluft nur noch größer wird.
Stefan Trömel, meinte dazu, dass die Zukunft der Arbeit bereits auf dem Radar der ILO sei und die COVID-19-Krise die digitale Transformation tatsächlich verstärkt habe. Es sei zwar beeindruckend zu sehen, wie private Unternehmen Schritte unternehmen, um eine barrierefreie Online-Umgebung zu gewährleisten, jedoch haben trotzdem einige Menschen mit Behinderungen, die nicht von zu Hause aus arbeiten können ihren Arbeitsplatz verloren – sie bleiben oft arbeitslos und ohne Einkommen oder sozialen Schutz.
Neil Milliken, erwähnte zunächst, dass sich die Gemeinschaft der Menschen mit Behinderungen seit Jahren für flexibles Arbeiten stark gemacht habe und nun durch COVID 19 für viele Mitarbeiter*innen mit und ohne Behinderungen dies endlich Realität geworden sei. In Bezug auf die Wortmeldung von Stefan Trömel meinte er, auch wenn es nun teilweise zu Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen gekommen ist, hätten sie langfristig gute Aussichten durch die voranschreitende Digitalisierung. Vor allem der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems und die Sicherstellung der Qualifizierung von Menschen mit Behinderungen würde einen besseren Zugang zu einem breiteren Spektrum von Arbeitsplätzen ermöglichen.
Nach der Diskussionsrunde konnte man zwischen zwei Breakout-Sessions wählen. Ich habe mich für jene zum Thema assistive Technologien entschieden:
Moderation: Alejandro Moledo (EDF)
Teilnehmer*innen:
- Ima Placencia Porrero, Senior Expertin in der Abteilung für Behinderung und Inklusion der Europäischen Kommission,
- Christoph Müller, Vorstandsvorsitzender des Industrieverbandes „Digital Assistive Technology DATEurope“,
- Pedro Polson, CEO EMEA von „HumanWare“, und
- Tara Rudnicki, Präsidentin von „TobiiDynavox“, beides internationale Unternehmen im Bereich Assistive Technologien
Alejandro Moledo ging zuerst auf die Hindernisse ein, die Menschen mit Behinderungen bei der Nutzung von assistiven Technologien im Weg stehen:
- die Verfügbarkeit,
- die Kosten,
- die mangelnde Unterstützung bei der Auswahl,
- Verwendung und Wartung der assistiven Technologien
- Interoperabilitätsprobleme mit Mainstream-Technologien (Interoperabilität ist die Fähigkeit von unterschiedlichen Systemen nahtlos und möglichst ohne Mehraufwand zusammenzuspielen)
Ima Placencia Porrero erläuterte die Tätigkeiten der EU bezüglich assistiver Technologien. Die EU hat in der Vergangenheit viele Projekte zum Thema assistive Technologien finanziert und im European Accessibility Act (EU-Barrierefreiheitsgesetz) nun auch eine Definition von assistiven Technologien enthalten ist. Außerdem enthalten die Rechtsvorschriften verbindliche Anforderungen, um die Benutzer*innen über die Kompatibilität mit Mainstream-Technologien zu informieren. Tara Rudnicki sprach eines der Haupthindernisse an: die hohen Kosten für assistive Technologien und hob Partnerschaften im gesamten Bereich als Schlüssel zu niedrigeren Preisen hervor. Ima Placencia Porrero führte ein weiteres Problem an. Nach wie vor gibt es keinen einheitlichen assistive-Technologie-Markt. Es gibt den Low-Tech-Markt, der gut funktioniert, aber für High-Tech-assistive Technologien und stärker regulierte Produkte wie Medizinprodukte (zB Implantate) wird es komplexer.
Wie sieht es nun mit der Zukunft der Arbeit aus? Mit der Digitalisierung und Barrierefreiheit und mit der Partizipation von Menschen mit Behinderungen?
Der Weg der EU hin zu einer inklusiven, barrierefreien und auch digitalen Arbeitswelt geht in die richtige Richtung. Vor allem durch die bereits vorhandenen europarechtlichen Regelungen: die EU-Vergaberichtlinie (public procurement directive), die Richtlinie zur Barrierefreiheit öffentlicher Websites (directive on Accessibility of Public Sector Websites) und das Europäische Gesetz zur Barrierefreiheit (European Accessibility Act). Hier sind aber auch die EU-Mitgliedsstaaten gefragt – denn sie müssen diese rechtlichen Vorgaben der EU zur Barrierefreiheit auch umsetzen.
Auch die neu verabschiedete „Europäische Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030“, die in den nächsten 9 Jahren geplante Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen vorgibt – wie zum Beispiel die Einrichtung des neuen „Accessible EU-Zentrums“. Um die digitale Welt barrierefrei zu gestalten, braucht es viel Arbeit – hier bieten sich also auch potenzielle Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen an. Menschenwürdige Arbeit ist nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern ein Sprungbrett zur wirtschaftlichen Selbstbestimmung und soziale Inklusion.
Menschen mit Behinderungen sind Nutzer*innen digitaler Technologie, aber in Zukunft sollten es auch mehr Mitarbeiter*innen mit Behinderungen geben, die barrierefreie Technologien nutzen, innerhalb eines diversen Teams in der in allen Berufsspaten. Dafür müssen politische Entscheidungsträger*innen und der öffentliche Sektor, Behindertenorganisationen, Unternehmen, die Technologiebranche – aber auch alle anderen Branchen zusammenarbeiten, um eine inklusive, digitale Welt Realität werden zu lassen und die digitale Kluft zwischen Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen zu schließen.