Krieg in der Ukraine: Mehr als 143.000 Menschen mit Behinderungen vertrieben. Informationen für Ukrainer*innen mit Behinderungen und ihre Familien
Original: Europäisches Behindertenforum EDF
Übersetzung: Gudrun Eigelsreiter
Ukrainer*innen mit Behinderungen sind durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine unverhältnismäßig stark betroffen. Daher wurde von der ständigen Vertretung der Ukraine bei den Vereinten Nationen eine Veranstaltung zur aktuellen Situation veranstaltet: In Form einer Begleitveranstaltung der Konferenz der Vertragsstaaten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Conference of States Parties to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities, kurz: COSP).
Die Veranstaltung wurde gemeinsam von der International Disability Alliance, dem European Disability Forum (EDF), der Ständigen Vertretungen der Republik Polen, der Republik Litauen, der Europäischen Union und der USA bei den Vereinten Nationen gesponsert. Eine Aufzeichnung ist vorhanden (abrufbar auf UN-TV).
Die Veranstaltung markierte den Beginn des ersten Tages der 15. Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN‑Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) und ermöglichte mehreren Akteur*innen, sich über die neuesten Informationen zur Situation der vom Krieg betroffenen Menschen mit Behinderungen auszutauschen. Staaten, Behindertenrechtsexpert*innen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen übermittelten ebenfalls ihre Empfehlungen und Forderungen.
143.600 Vertriebene mit Behinderungen
Zu den wichtigsten Botschaften der Redner*innen gehörten: Mehr als 143.600 Menschen mit Behinderungen wurden durch den Krieg vertrieben.
- Mehrere Probleme müssen angegangen werden, unter anderem die nicht barrierefreien Unterkünfte, der fehlende Zugang zu Nahrungsmitteln, die nicht barrierefreien Informationen, die schlechte Logistik und Probleme bei der Evakuierung von Kindern mit Behinderungen.
- Darüber hinaus werden Ukrainer*innen mit Behinderungen, die in Drittländern Zuflucht suchen, in Wohneinrichtungen abgesondert.
Menschen mit Behinderungen und ihre Vertretungsorganisationen müssen automatisch in alle Schritte der Notfallhilfe und Konfliktlösung einbezogen werden, auch in den Prozess der Friedenskonsolidierung und in internationale Gremien.
Die von Catherine Naughton, Direktorin des EDF, moderierte Veranstaltung begann mit Eröffnungsworten von drei Vertretern: vom ukrainischen Botschafter Sergiy Kyslytsya; vom Vorsitzenden der IDA (der internationalen Allianz für Menschen mit Behinderungen) sowie vom Präsidenten des EDF, Yannis Vardakastanis; sowie vom Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Professor Gerard Quinn.
Botschafter Sergiy Kyslytsya erklärte, dass die russische Aggression gegen die Ukraine die größte humanitäre Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg darstelle und betonte, dass 143.600 Menschen mit Behinderungen vertrieben wurden. Er erklärte, dass Menschen mit Behinderungen die verheerenden Auswirkungen des Krieges stärker zu spüren bekommen.
Yannis Vardakastanis betonte, dass IDA einen neuen Notfallmechanismus für Menschen mit Behinderungen („Disability Inclusive Emergency Response Mechanism“) eingerichtet habe, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Bereich der Notfallmaßnahmen und -koordination zu verbessern. Er erläuterte die Maßnahmen, die das EDF und dessen Mitglieder ergreifen, um Ukrainer*innen mit Behinderungen zu unterstützen. Er erwähnte auch das zwischen Vertreter*innen der Ukraine und dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen organisierte Ad-hoc-Treffen, das zur Annahme einer Erklärung des Ausschusses führte. Vardakastanis erinnerte an die Verpflichtung der Länder, die Rechte von Menschen mit Behinderungen – einschließlich eines unabhängigen Lebens – zu wahren und teilte seine tiefe Besorgnis über Berichte von Menschen mit Behinderungen in Heimen, die aus der Ukraine geflohen sind.
Der Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gerard Quinn, verwies auf die internationalen Mechanismen zum Schutz von Ukrainer*innen mit Behinderungen. Er erklärte, dass es immer noch Straffreiheit für die Täter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebe – insbesondere auch im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen. Er fügte hinzu, dass bald ein Bericht veröffentlicht wird, der sicherstellen soll, dass die UN-BRK in die Leitlinien für Notfallmaßnahmen integriert wird.
Die Vertreter*innen fokussierten auch auf die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen – sowohl von jenen in der Ukraine als auch von Flüchtlingen mit Behinderungen aus anderen Ländern.
Danach thematisierten Redner*innen die innere Situation in der Ukraine:
Larysa Bayda, Abteilungsleiterin der Nationalversammlung der Menschen mit Behinderungen der Ukraine (NAPD), berichtete über zahlreiche Verstöße, denen Ukrainer*innen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Zu den Problemen gehören nicht nur die fehlende Barrierefreiheit von Unterkünften, sondern auch der fehlende Zugang zu Nahrungsmitteln, nicht barrierefreie Informationen und die schlechte Logistik. Außerdem würden und werden Organisationen, die Menschen mit Behinderungen aufnehmen, bombardiert. Bayda erklärte, dass Organisationen von Menschen mit Behinderungen in die humanitäre Hilfe einbezogen werden müssten und die finanzielle Unterstützung auch behinderungsbedingte Kosten umfassen sollte.
Dariya Herasymchuk, Beraterin für Kinderrechte und Kinderrehabilitation, sprach über die katastrophale Situation von Kindern. So seien Kinder und Jugendliche mit Behinderungen schwer traumatisiert, hätten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und es fehle an Evakuierungsmöglichkeiten. Herasymchuk erklärte, dass die Ukraine Kinder mit Behinderungen nicht finanziell unterstützen könne, wenn der Krieg noch länger weitergehe. Positiv bemerkte sie, dass die EU eine Datenbank mit Daten con Ukrainer*innen erstellt habe, die außerhalb der Ukraine Schutz suchen. Diese Datenbank kann die Verfolgung aller Kinder mit Behinderungen ermöglichen. (Anmerkung: Um sicherzustellen, dass Kinder mit Behinderungen aus der Ukraine nicht verschwinden).
Mariia Karchevych, stellvertretende Gesundheitsministerin für digitale Entwicklung, Transformation und Digitalisierung, erklärte, es sei unmöglich zu wissen, wie viele Menschen mit Behinderungen sich in besetzten und zerstörten ukrainischen Städten und Dörfern aufhalten. Sie betonte die Notwendigkeit, Binnenvertriebene mit Behinderungen zu unterstützen und erwähnte aktive Programme zur psychologischen Unterstützung bzw. Bereitstellung psychologischer Unterstützung.
Der Abgeordnete Dragos Pîslaru, Vorsitzender des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des E-Parlaments, betonte, dass die einzige Lösung darin bestehe, dass Russland seine Aggression gegen die Ukraine einstellt. Er erklärte, das EU-Parlament sei besorgt über die Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, insbesondere gegen Frauen und Kinder. Das EU-Parlament machte auf die Notwendigkeit aufmerksam, Ukrainer*innen mit Behinderungen zu unterstützen, einschließlich der Annahme von zwei Entschließungen seit Kriegsbeginn. Das EU-Parlament engagiere sich stark für die Unterstützung von Ukrainer*innen mit Behinderungen.
Pawel Wdowik, Staatssekretär und Bevollmächtigter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Polen, berichtete über die von seinem Land ergriffenen Maßnahmen, darunter ein von der Regierung und NGOs eingerichtetes Unterstützungssystem für Ukrainer*innen mit Behinderungen mit 29 Millionen Dollar für 2022 sowie Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Polen stelle auch umfangreiche Informationen für alle Ukrainer*innen bereit, die ins Land kommen.
Botschafter Rytis Paulauskas, Ständiger Vertreter Litauens bei den Vereinten Nationen, erklärte, dass Litauens Hauptpriorität darin bestehe, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen ihre Menschenrechte ausüben können. Er betonte, dass alle Länder Ukrainer*innen mit Behinderungen unterstützen müssten. Paulauskas erzählte, dass sich litauische Behindertenorganisationen aktiv mit ukrainischen Organisationen engagieren würden und begrüßte die Bemühungen von Jonas Ruskus, dem stellvertretenden Vorsitzenden des UN-BRK-Ausschusses.
Sara Minkara, US-Sonderberaterin für internationale Behindertenrechte, konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf die Bedeutung der Einbindung von Menschen mit Behinderungen in kurz- und langfristige Maßnahmen. Sie erklärte, dass Krisen auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden müssten – von der Vorplanung über die Reaktion bis hin zu Friedenskonsolidierung und Wiederaufbau. Menschen mit Behinderungen müssten in alle Schritte des Prozesses einbezogen werden. Wenn es richtig gemacht werde, könnte der Wiederaufbau des Landes eine Gelegenheit für eine bessere Inklusion darstellen, sich in Richtung eines Gemeinschaftslebens bewegen und Barrierefreiheit für Alle gewährleisten.
Yannis Vardakastanis schloss die Veranstaltung mit der Feststellung, dass IDA internationale Anstrengungen fordere, die zum Wiederaufbau einer inklusiven und barrierefreien Ukraine beitragen.