Die Lebenshilfe Vorarlberg setzt sich seit 55 Jahren für Menschen mit Behinderungen ein. Anlässlich des Jubiläums würdigt die 1967 gegründete Organisation das ehrenamtliche Engagement der Gründungszeit, zieht Bilanz über mehr als ein halbes Jahrhundert und verweist auf aktuelle Herausforderungen wie den akuten Mangel an qualifizierten Mitarbeiter*innen und die Teuerung. Im Jahr 2022 eröffnet die Lebenshilfe die frisch renovierte Gründungswerkstätte Götzis-Eichbühel, wo am 22. September ein Jubiläums-Mediengespräch stattfand.
Im Jahr 1967 wurde von engagierten Persönlichkeiten und Angehörigen die gemeinnützige Sozialorganisation Lebenshilfe Vorarlberg gegründet. „Es ist einfach großartig, dass wir heute im Jahr 2022 mit dem Mut der Pioniereltern den Weg der Inklusion und Partizipation gehen und feiern dürfen. Es gab eine Zeit mit Schrecken und Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen bis zur Aberkennung ihrer Existenzberechtigung in der Kriegszeit von 1939 bis 1945. Danach, nach einer langen Zeit der Stille wuchs die Hoffnung und Zuversicht. Die Eltern traten aus dem Schatten der Vergangenheit. Es gelang ihnen mit vielen Helfenden für ihre Töchter und Söhne Tages- und Wohnplätze wie hier die Werkstätte Götzis Eichbühel für ein sinnerfülltes zufriedenes Leben aufzubauen“, erklärt Adriane Feurstein, Präsidentin der Lebenshilfe Vorarlberg, die Entwicklung seit der Gründungszeit in den 1960er Jahren.
Heute werden Angehörige zusätzlich von Selbstvertreter*innen unterstützt und ermutigt. „Wir gehen gemeinsam den Weg der Inklusion, Partizipation und Selbstbestimmung. Wir sehen eine Werkstätte als Arbeits- und Lebensraum für Begegnung und Freundschaft. Hier entstehen Ideen, hier werden Impulse gesetzt für die Zukunftsplanung. Es geht um Lebensthemen wie Gesundheit, Mobilität sowie Altwerden und es haben Fragen zum Empowerment in verschiedensten Lebensbereichen Platz. Dafür wichtig und unverzichtbar sind unsere wertvollen Mitarbeitenden: engagiert, flexibel, ausdauernd und offen für die Menschen mit Behinderungen. Ihnen danke ich ganz besonders“, so Feurstein.
Weg zur Inklusion durch das gelebtes Mitanander
Gab es zur Gründungszeit nur klassische Werkstätten und Wohnhäuser für Menschen mit Behinderungen, bietet die Lebenshilfe Vorarlberg heute etwa unterschiedliche Arbeitsmodelle und Wohnformen an. Diese würden sich Geschäftsführerin Michaela Wagner-Braito zufolge an den individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausrichten. So seien die 18 Werkstätten auch Sprungbrett auf den ersten Arbeitsmarkt: Von den 560 begleiteten Personen im Arbeitsbereich hätten über die Dienstleistungen „JobKombi“ und „Jobwärts“ 127 Personen einen Arbeitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten.*
Die Lebenshilfe Vorarlberg bietet neben unterschiedlichen Arbeitsangeboten Wohnformen wie Wohnhäuser, gemeinschaftliches Wohnen in einer Wohnanlage, selbstständiges Wohnen in einer eigenen Wohnung und „Leben im Alter“ an. Dabei stehen sowohl individuellen Bedürfnisse der Bewohner*innen als auch deren bestmögliche Unterstützung im Vordergrund.
15 Jahre Selbstvertretung – Nichts über uns, ohne uns
In den letzten Jahrzehnten habe sich Klaus Brunner, Selbstvertreter und Vorstandsmitglied der Lebenshilfe Vorarlberg, zufolge die Rolle von Menschen mit Behinderungen sehr gewandelt. So würden Menschen mit Behinderungen immer selbstbewusster und selbstbestimmter auftreten und ihre Anliegen klar formulieren. „Wir setzen uns dafür ein, dass jede und jeder Einzelne Wahlmöglichkeiten hat. Denn auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sollen in einer passenden, barrierefreien Wohnung leben können. Oder dort arbeiten, wo es ihnen gefällt“, erklärt Brunner.
Eröffnung der Gründungswerkstätte Götzis-Eichbühel
In Götzis wurde 1967 die erste Lebenshilfe-Werkstätte eröffnet, 1974 erfolgte der Umzug nach Götzis-Eichbühel. Die dort eingerichtete erste eigenen Werkstätte wurde mithilfe finanzieller Unterstützung der Gemeinde Götzis und weiterer Kummenberg-Gemeinden sowie dem tatkräftigen Einsatz vieler Freiwilliger realisiert. Diese sammelten nicht nur Spendengelder, sondern wirkten auch beim Bau aktiv mit. Das mittlerweile in die Jahre gekommene Gebäude wurde kürzlich saniert und an heutige Bedürfnisse angepasst. „Die Menschen, die wir in der Lebenshilfe heute begleiten, haben zum Teil einen sehr hohen Unterstützungs- und Pflegebedarf. Dies macht eine laufende Anpassung der Raumkonzepte nötig. Im Jahr 2019 wurde mit Mitteln der EU und des Landes diese Werkstätte deshalb grundlegend saniert. Der Einzug in das frisch renovierte Gebäude erfolgte genau in der ersten Pandemie-Welle im Jahr 2020. Eine offizielle Eröffnung konnte bisher nicht stattfinden. Das soll heute noch im kleinen Rahmen nachgeholt werden“, verdeutlicht Wagner-Braito.
Qualifizierte Mitarbeiter*innen dringend gesucht
Dass die Lebenshilfe Vorarlberg mit einem ernormem Mangel an qualifizierten Mitarbeiter*innen zu kämpfen hat, wird anhand der rund 30 ausgeschrieben Stellen deutlich. Um die Dienstleistungen aufrechterhalten zu können, wird dringend Personal. „Wer also eine Arbeit mit Sinn sucht und eine Ausbildung in der Behindertenarbeit mitbringt, ist herzlich willkommen, mit uns den Weg zur Inklusion zu gestalten“, so Wagner-Braito.
Eintreten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Am 28. September wird in ganz Österreich gegen die Unterlassung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention protestiert. Von 11:00 bis 13:00 Uhr finden auf dem Wiener Ballhausplatz und in allen Landeshauptstädten Protestkundgebungen und Mahnwachen statt. In Vorarlberg ist der Treffpunkt vor dem Landhaus in Bregenz. Auslöser für diesen öffentlichen Protest ist der völlig ungenügende Nationale Aktionsplan (NAP) Behinderung. Dieser wurde trotz massiver Kritik von Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen am 6. Juli 2022 vom Ministerrat beschlossen. Die Behindertenorganisationen Österreichs fordern ein inklusives Bildungssystem, bedarfsgerechte, bundeseinheitliche Persönliche Assistenz, barrierefreie Gebäude, Kommunikation und Online-Anwendungen, existenzsichernde Arbeit, die Kompensation der Teuerung und die Bekämpfung der Armut.
*Zahlen per 30.6.2022, Lebenshilfe Vorarlberg GmbH