Warum wir darüber reden müssen
Wenn es um Behinderung geht, gibt es unzählige Vorurteile, die Betroffenen das Leben erschweren. Besonders was das Thema Behinderung und Sexualität anbelangt, gibt es noch viel zu tun, um diese Vorurteile zu durchbrechen. Doch warum ist es wichtig, diese Vorurteile abzubauen?
Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht
Sexualität ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Jeder Mensch hat das Recht auf selbstbestimmte Sexualität, und dazu gehört auch, dass man sich selbst aussuchen darf, mit wem man eine Beziehung eingehen möchte, und wie man diese Beziehung gestalten möchte. Dieses Recht darf niemandem abgesprochen werden.
Aufgrund von veralteten Vorurteilen wird angenommen, dass Menschen mit Behinderungen kein Interesse an Sexualität haben – oder vielleicht gar nicht haben sollen. Menschen mit Behinderungen werden oft sogar als ewige Kinder wahrgenommen.
Aber erwachsene Menschen sind keine Kinder und sollen auch nicht so behandelt werden. Sie sind erwachsene Menschen, die das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben – und dazu gehört auch die sexuelle Selbstbestimmung. Das gilt auch für Menschen, die in Institutionen leben. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, Partnerschaft und Familie muss auch in Institutionen Platz finden und gefördert werden.
Die Gefahr in der Annahme, dass Menschen mit Behinderungen kein Interesse an Sexualität haben, liegt darin, dass sie dann oft keine passende Aufklärung bekommen, und ihnen dadurch nicht möglich gemacht wird, selbstbestimmte und informierte Entscheidungen über ihre eigenen Körper zu treffen. Je weniger man weiß, desto weniger kann man darüber entscheiden, was man möchte, und was man nicht möchte.
Besonders für Frauen mit Behinderungen kann dies besonders gefährlich sein, da sie aufgrund ihrer mehrfachen Marginalisierung einem besonders hohen Gewaltrisiko unterliegen. Aufklärung und Empowerment sind deshalb wichtige Grundlagen im Sinne der Gewaltprävention.
Ein weiterer Faktor in der Entstehung von Gewalt liegt oft in den Dynamiken von unausgeglichenen Machtverhältnissen. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf gleichberechtige Partnerschaften und auf Unabhängigkeit. Oft entstehen Diskrepanzen, wenn ein*e Partner*in auch den Großteil der Pflege übernehmen muss und wenn finanzielle Abhängigkeit besteht. Ein Ausbau von persönlicher Assistenz und die Förderung finanzieller Unabhängigkeit ist deshalb unerlässlich.
Familienplanung und reproduktive Rechte Jeder Mensch muss selbst darüber entscheiden dürfen, wie und mit wem er*sie zusammenleben möchte, und ob und wie viele Kinder er*sie haben möchte.
Für Menschen mit Behinderungen ist dies auch in der heutigen Zeit noch keine Selbstverständlichkeit. Gerade für Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, ist das Zusammenleben in Partnerschaften aufgrund der Rahmenbedingungen oft nicht möglich.
Bis heute ist es in vielen Ländern der EU gängige Praxis, dass an Frauen mit Behinderungen Zwangsterilisationen durchgeführt werden, oder dass Frauen mit Behinderungen Verhütungsmittel verabreicht werden, ohne dazu eingewilligt zu haben. Es wird aufgrund von schädlichen Vorurteilen angenommen, dass Menschen mit Behinderungen keine guten Eltern sein können. Dass das nicht stimmt, wurde zuletzt in dem Film Eva-Maria von Lukas Ladner bewiesen, der im Frühjahr dieses Jahres erschienen ist. Der Film zeigt auf eindrucksvolle und berührende
Weise, wie Elternschaft mit Behinderung und persönlicher Assistenz gelingen kann.
Was braucht es, damit Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Partnerschaft, Familie und Sexualität ausleben können?
Ein barrierefreier und niederschwelliger Zugang zu Informationen, sexueller Aufklärung und Beratung muss für alle Menschen mit Behinderungen gewährleistet sein. Außerdem müssen Schutzräume und Ressourcen für Opfer von häuslicher
Gewalt für alle Menschen barrierefrei zugänglich sein.
Es muss anerkannt werden, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, sich ihre Partner*innen selbst aussuchen können, dass sie selbst wählen können, wie und mit wem sie zusammenleben möchten, ob sie heiraten möchten, und dass sie zum Thema Verhütung, Familienplanung und Elternschaft ihre eigenen Entscheidungen treffen können.
Auch Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen müssen diese Rechte anerkennen, fördern und Raum für das Ausleben dieser Rechte bieten. Dazu braucht es ausreichend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten, und eine gezielte Schulung von Mitarbeiter*innen.
Persönliche Assistenz und Elternassistenz müssen weiter ausgebaut und gefördert werden, um ein selbstbestimmtes Leben in all seinen Faceten zu ermöglichen.
Mehr zum Thema Das European Disability Forum (EDF) hat vor kurzem eine Petition gestartet, um die Zwangssterilisation an Menschen mit Behinderungen zu beenden. Die Petition kann man auf deren Website abrufen und unterzeichnen.
Was ist Sexualbegleitung/Sexualassistenz?
Sexualassistenz oder Sexualbegleitung ist ein Angebot für Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne Hilfe realisieren können. Was im Rahmen der Begleitung stattfindet, ist von Anbieter*in zu Anbieter*in unterschiedlich, und auf die einzelnen Bedürfnisse der Kund*innen individuell abgestimmt. Manche unterscheiden zwischen passiver und aktiver Sexualassistenz.
In Österreich ist der Begriff der Sexualbegleitung oder Sexualassistenz nicht geschützt. Daher gibt es keine eindeutige Definition oder Regelung. Rechtlich gesehen fällt die Sexualassistenz unter Sexarbeit. Somit ist auch die Handhabung von
Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Eine Förderung für Sexualassistenz für Menschen mit Behinderungen gibt es in Österreich, im Gegensatz zu den Niederlanden, nicht.
Weitere Informationen und Beratung zum Thema:
Fachstelle Hautnah, Alpha Nova: Sexualberatung für Menschen mit Behinderungen
Verein Ninlil: Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderungen
Lehrgang zur Sexualbegleitung/Sexualassistenz von SOPHIE und der Volkshilfe Wien
von Andrea Strohriegl