Die COVID-19-Pandemie verstärkte die generellen Einschränkungen der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. So wurde in betreuten Wohnanlagen zeitweise ein komplettes Besuchs- und Betretungsverbot erlassen, die Betreuung und Arbeitsmöglichkeiten ausgesetzt, was zu massiver sozialer Isolation führte. Menschen mit Behinderungen wurden als Angehörige einer Risikogruppe eingestuft, was seitens der Politik zwar zum Schutz gedacht war, tatsächlich aber zur Verdrängung und Isolation führte. Auch war kein barrierefreier Zugang zu Angeboten und Leistungen gegeben.
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Personengruppen in Tirol
Lukas Kerschbaumer, Sascha Gell, Pia Reichmann und Magdalena Meindlhumer vom Forschungszentrum für Innovation im Sozial- und Gesundheitswesen am Center for Social & Health Innovation der unternehmerischen Hochschule MCI in Innsbruck untersuchten die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Personengruppen in Tirol. Die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichten die Autor*innen in der von assoz. Prof. Dr. Andreas Exenberger herausgegebenen Pubikation des Tiroler Armutsforschungsforums 2020–22 „Armutsbetroffenheit in der Krise„.
Die umfangreiche Erhebung über soziale Auswirkungen der Corona-Pandemie auf vulnerable Personengruppen erfolgte anhand der Auswertung eines Samples von Betroffenen sowie Personen aus Sozialeinrichtungen. Der Schwerpunkt in dieser Teilstudie liegt auf den Auswirkungen der Pandemie auf Erwerbsbiografien, wobei fünf prototypische Fallbiographien identifiziert wurden.
Dabei zeigte sich überdeutlich, dass nicht alle Segmente oder Schichten der Bevölkerung gleichermaßen von (pandemiebedingter) Arbeitslosigkeit bzw. Kurzarbeit betroffen waren und sind, sondern sich insbesondere einkommensschwache und bildungsferne Gruppen als besonders vulnerabel erweisen – nicht zuletzt Familien und Menschen mit Behinderungen. Die Untersuchung griff vor allem die Themenbereiche Wohnen, Finanzen, Unterstützungen, Familie/Netzwerke sowie psychische Auswirkungen heraus.
In dem Beitrag von Kerschbaumer, Gell, Reichmann und Meindlhumer wird anfangs ausführlich beschriebenn, wie sich die wirtschaftliche und soziale Situation in Österreich in den letzten Jahren zum einen generell und zum anderen speziell hinsichtlich der Pandemie entwickelt hat. Unmittelbare Auswirkungen seien natürlich schwer zu beziffern, doch gäbe es verschiedene Indikatoren, aus denen sich ein Bild ableiten ließe, wie etwa massiv gestiegen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit zu Beginn der Corona-Krise, wobei Tirol durch seine Wirtschaftsstruktur besonders getroffen war, die auf das bereits vorher immer wichtiger gewordene Problem der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit aufsetzte.
Angebotsdefizite
Die Teilnehmer*innen berichteten von verschiedenen Beispielen für Dienstleistungsdefizite in den Bereichen Arbeit, Bildung, Freizeit und Wohnen, auch schon vor der COVID-19-Pandemie. Besonders ausgeprägt als einschränkend erwiesen sich Dienstleistungsdefizite im Bereich der Mobilität. Das Angebotsdefizit im Bereich der Mobilität ergibt sich dabei aus fehlenden bzw. nicht barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln, unzureichenden Förderstrukturen, ungenügend finanzierten Assistenzleistungen bei der Begleitung oder fehlenden Zuständigkeiten von Fahrdiensten. Dabei sind besonders infrastrukturschwache rurale Gebiete mit der Problematik von Mobilitätsdefiziten konfrontiert.
Zusätzlich erschwert wird dieses Phänomen durch Informationsdefizite bezüglich Anspruchsvoraussetzungen und Prozessen der Antragsstellung zur Erlangung entsprechender Mobilitätsförderungen. Die unzureichende Qualität, Zentralität und Barrierefreiheit (leichter lesen) von Informationen bestehender Förderstrukturen werden als Hürden identifiziert.
Angehörige und Betroffene verweisen teilweise auf ein weiteres Problem im Bereich der Mobilität. Dieses umfasst die isolierte Angebotsgestaltung für Menschen mit Behinderungen. Freizeitmöglichkeiten, Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnplätze sind gestreut über diverse Anbieter und Regionen. Resultierend daraus erhöhen sich die Distanzen zwischen den Angeboten und die Abhängigkeit von Mobilitätsdienstleistungen, bei versuchter Inanspruchnahme unterschiedlicher Angebote.
Die Pandemie hat die bestehenden Leistungsdefizite weiter verschärft – zum einen, da öffentliche Verkehrsmittel aufgrund von Fahrgastbeschränkungen nur noch begrenzt nutzbar waren, und zum anderen, da die Hilfeleistungen für die Begleitung von Menschen mit Behinderungen aufgrund von Kontaktbeschränkungen verringert wurden.
Das Angebotsdefizit in der Mobilität zieht schlussendlich zwei Konsequenzen nach sich. Erstens, mögliche Angebote für passende Freizeitmöglichkeiten, Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnplätze sowie Therapien, medizinischen Leistungen oder Assistenzen werden aufgrund der Unerreichbarkeit nicht wahrgenommen. Zweitens, kommt es im Umkehrschluss zur Verknappung von Angeboten für Menschen mit Behinderungen, da vielfach fehlende Nachfrage unterstellt wird, wenngleich das Problem ein anderes ist.
Grad der Behinderung
Von Menschen mit Behinderungen wird die Definition bzw. Einstufung ihrer Behinderung als willkürliche Momentaufnahme und als zu starke Abhängigkeit von Begutachter*innen empfunden. Medizinische Kriterien sind dabei meist ausschlaggebend für eine Einstufung. Dies stößt besonders bei Dienstleistern, Trägern und Angehörigen auf Unverständnis, da die medizinische Defizitorientierung nicht mehr der tatsächlichen Praxis einer kompetenzorientierten Förderung entspricht. Zusätzlich fehlen den Kriterien zur Einstufung die nötigen Trennschärfen und Facetten, um ein breites Spektrum an Behinderungen zufriedenstellend einzustufen. Gerade Menschen mit psychischen Behinderungen haben hier vielfach darauf verwiesen, wesentliche Benachteiligungen gegenüber Menschen mit physischen Behinderungen wahrzunehmen. Hier wird angegeben, dass offensichtliche Behinderungen einen geringeren Rechtfertigungsdruck als jene hätten, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.
Die Hürden, aufgrund psychischer Behinderungen eine Einstufung zu beantragen, seien wegen der Angst vor Stigmatisierung sehr hoch. Eine niedrige Einstufung oder die umfangreiche Rechtfertigung gestellter Ansprüche werden hier als problematisch identifiziert und unterminieren in Teilen die Bestrebungen, den Einstufungsprozess entweder in Anspruch zu nehmen oder einen zufriedenstellenden Ausgang zu verfolgen. Zudem besteht die Wahrnehmung, dass interpersonelle Fähigkeiten (Kommunikation, Offenheit) eine treffende Einstufung begünstigen. Das sorgt für Unmut, da die meisten Förderstrukturen erst nach einer formalen Anerkennung bzw. Einstufung einer Behinderung zugänglich sind. Die von Betroffenen eingereichten Anträge auf Förderleistungen sind somit immer mit Unsicherheit und der Abhängigkeiten von Verwaltungsmitarbeiter*innen behaftet.
Erschwerend ist zum einen, dass die Art, der Schweregrad oder das Bestehen einer Behinderung der gesetzlichen Definition des jeweiligen Landes oder Bundeslandes unterliegt und somit verschiedene Leistungsansprüche bestehen. Das heißt, was im Land A förderfähig ist, muss im Land B nicht zwingend Anerkennung finden oder gefördert werden. Eine grenzüberschreitende Angebotswahrnehmung bedeutet somit vielfach, dass Behinderungen in beiden Ländern nachzuweisen sind. Zudem wird die Antragsstellung als zu komplex und bürokratisch wahrgenommen.
Zudem hat sich durch die COVID-19-Pandemie ein sehr ähnliches Problem ergeben, nämlich, dass Menschen mit Behinderungen unterschiedslos als Risikogruppe eingestuft werden. In Summe bedingen diese Umstände oft Ohnmachtsgefühle bei Betroffenen und Angehörigen. Die Antragstellung wie Anfechtungen von Bescheiden steigern sich so in den individuellen Lebenswelten zu konkreten Zugangshemmnissen zu spezifischen Angeboten und werden als fremdbestimmend und diskriminierend wahrgenommen.
Arbeitsmarktinklusion
Aus Perspektive der Arbeitgeber*innen, Trägern und Verwaltungsbehörden, ist die Einstellung von Menschen mit Behinderungen im ersten Arbeitsmarkt von Berührungsängsten, Vorurteilen, und der Angst zusätzliche Verantwortung zu übernehmen gekennzeichnet. Seitens der Arbeitgeber*innen wird von fehlender Ressourcenbereitstellung für Arbeitsplatzanpassungen oder
Assistenzen am Arbeitsplatz berichtet. Erschwerend ist, dass falsche Informationen in Arbeitgeber*innen-Kreisen kursieren bezüglich des erhöhten Kündigungsschutzes und bereitgestellten Förderleistungen. Arbeitgeber*innen sind zudem am ehesten dazu bereit, einen Menschen mit Behinderungen einzustellen, wenn sie direkt darauf angesprochen und ausreichend begleitet werden. Dabei ist während der Vermittlungs- und Einarbeitungsphase von Menschen mit Behinderungen eine ausreichende Beratung und Begleitung (Jobcoaches etc.) besonders wichtig.
Für Angehörige, Betroffene, Institutionen und Träger besteht ein Angebotsdefizit an spezifischen Tätigkeitsfeldern für Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dies ist einerseits zurückzuführen auf fehlende Inklusions- bzw. Förderangebote für Menschen mit Behinderungen, die auf eine sukzessive Überführung von institutionellen Strukturen in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind. Andererseits stellen mangelnde Arbeitsplatzangebote die den individuellen Kompetenzen der Betroffenen entsprechen eine Inklusionshürde dar. Als zusätzliches Hemmnis wird die Verantwortungsdistribution zulasten der Arbeitgeber*innen bewertet, welche zuletzt auf den (finanziellen) Risiken, bei Arbeitsausfällen oder Minderleistungen, sitzen bleiben.
Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wurden zudem als Gefährdung etablierter Beschäftigungsverhältnisse wahrgenommen und machten eine neue Beschäftigung schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Die Teilnehmer*innen beschrieben, dass die allgemeine Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in die Risikogruppe von COVID-19, die als Schutzmaßnahme konstruiert wurde, eine neue Form der Ausgrenzung begünstigte.
Angehörige kündigten ihre Arbeitsplätze, um fehlende oder ausgesetzte institutionelle Pflege zu ersetzen, da die Pflegeeinrichtungen aufgrund der veränderten Anforderungen an die Leistungserbringung durch COVID-19 mit der Situation überlastet waren. Arbeitgeber*innen hingegen berichteten, dass sie – um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter*innen zu gewährleisten – oft keine andere Möglichkeit sahen, als diese zu entlassen.
Arbeitsplatzverluste traten vor allem beim Übergang von institutionellen Strukturen zum ersten Arbeitsmarkt auf.
Digitalisierung
Eine zentrale Veränderung in der Bildungs- und Arbeitswelt stellt der Digitalisierungsschub dar. Die Beschleunigung der Digitalisierung während der Pandemie wurde sowohl als Chance als auch als Hemmnis wahrgenommen. Einerseits wird die Digitalisierung als Inklusionschance für Menschen mit Behinderungen beschrieben. Vielfach wird die individuelle Handlungsfähigkeit massiv erweitert, besonders im Fall von Mobilitätseinschränkungen und diversen Unterstützungsleistungen (z. B. zeitnahe Rückmeldungen via Videotelefonie).
Andererseits gibt es auch Hürden, wenn für die Nutzung digitaler Inhalte bzw. damit verbundener Tätigkeitsfelder im Erwerbsleben höhere Qualifikationsniveaus und Kompetenzen benötigt werden. Nicht jedes digitale Kommunikations-, Interaktion- und Arbeitsangebot ist auch ein niedrigschwelliges.
Mögliche Vorteile der Digitalisierung sind somit an die jeweiligen Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen gebunden. Zusätzlich wurde die Problematik der zunehmenden Automatisierung thematisiert, in deren Folge vielfach einfache Tätigkeiten wegfallen und somit dem Arbeitsmarkt als Tätigkeitsprofil nicht mehr zur Verfügung stehen. Besonders für Menschen mit Lernschwierigkeiten können höhere Qualifikationsanforderungen bzw. Neuorientierungen Hemmnisse darstellen und bedingen teilweise höhere Unterstützungsbedarfe.
Die bereits erwähnte allgemeine Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen als Risikogruppe aufgrund von COVID-19 führte zu einer Situation, in der von Menschen mit Behinderungen erwartet wurde, dass sie sich eher an digitale Lösungen halten als an persönliche Interaktionen als Schutzmaßnahme. Die Teilnehmer*innen aller Zielgruppen identifizierten die Altersdisparität als ein weiteres Problem im Schatten der Digitalisierung. Jüngeren Alterskohorten wird eine höhere Digital Literacy attestiert, womit der Übergang zu digitalen Tätigkeiten mit weniger Aufwand bzw. Qualifizierungsleistungen verbunden sei. Hier kommt es teilweise zu einer starken altersbasierten Vorselektion, die nicht zwingend die individuellen Kompetenzen von Menschen mit Behinderungen widerspiegelt.
Institutionen und Träger verorten die Herausforderungen im Umgang mit den neuen digitalen Möglichkeiten auch als Herausforderung für ihr Personal. Die Begleitung von Menschen mit Behinderungen bei digitalen Tätigkeiten stellt hier vielfach für ältere Mitarbeiter*innen eine Herausforderung dar, da diese selbst im Umgang mit den neuesten digitalen Tools Schwierigkeiten haben. Um Betroffene weiter begleiten zu können, ist auch hier eine Weiterqualifizierung notwendig.
Zuletzt wird auf die Problematik der sozialen Isolation verwiesen. Für Menschen mit Behinderungen ist die Bildungs- und Arbeitswelt (nicht nur der Arbeitsmarkt) oft zentral für die soziale Vernetzung und wird als tragender Faktor für eine erfolgreiche Inklusion in die Gesellschaft identifiziert. Durch den Wegfall analoger Arbeitsplätze und Präsenzpflichten werden zwischenmenschliche Kontakte begrenzt oder fallen gänzlich aus. D.h. manche Befragten äußerten Sorge darüber, formal integriert zu werden, da Partizipation über digitale Kanäle gewährleistet ist, aber der individuelle Sozialraum somit auch nur zu leicht auf die eigenen vier Wände beschränkt wird.
COVID-19 Wirkungshorizonte
Aufgrund der COVID-19-Situation fühlen sich Betroffene und Angehörige im Stich gelassen und berichten von Einschränkungen in ihrer Selbstbestimmung (besonders in betreuten Wohnformen), von Besuchs- und Betretungsverboten in Institutionen, Lebensweltbegrenzungen, Angebots- und Arbeitsbeschränkungen sowie Arbeitsplatzverlusten – ausgelöst durch eine generelle Einstufung von Menschen mit Behinderungen als Angehörige einer Risikogruppe. Dies verschärfte zudem die soziale Isolation von Menschen mit Behinderungen.
Schwer erarbeitete Inklusionsleistungen in den Bereichen „Arbeit“, „Bildung“, „Freizeit“ und „Wohnen“ wurden kurzfristig durch die Pandemiemaßnahmen eingebüßt.
Angehörige sahen sich vor das Problem gestellt, Pflege- und Versorgungsleistungen ohne zusätzliche Kompensation zu übernehmen. Dies verschärfte nicht nur die Situation von Menschen mit Behinderungen, sondern auch die der pflegenden Angehörigen. Angehörige berichten von Erfahrungen sozialer Isolation zum Schutz der Betroffenen und der Verknappung finanzieller Ressourcen durch Übergänge in Teilzeitarbeit und Kurzarbeit, um die nötigen Pflegeleistungen erbringen zu können.
Institutionen und Träger sahen sich mit Kapazitätsdefiziten konfrontiert. Teilweise ohnehin bereits niedrig angesetzte Personalschlüssel konnten die Ausfälle, bedingt durch Quarantänen, Erkrankungen und den Wegfall von Bildungs- und Arbeitsplätzen sowie Tages- und Freizeitstrukturen, nicht vollständig kompensieren. Hinzu kam der Wegfall von Mobilitätsangeboten durch Einschränkungen im öffentlichen Personennahverkehr bedingt durch COVID-19-Maßnahmen (Personenanzahl bei Transporten, Frequenzminderung der Linien). Besonders betroffen waren ländliche Gebiete, die bereits zuvor nicht ausreichend an den öffentlichen Personennahverkehr angebunden waren.
Ein weiteres Problem, das sich für alle Stakeholder stellte, war die fehlende Transparenz in der Kommunikation und im Krisenmanagement, das die Unsicherheit zusehends verstärkte. Hinzu kam, insbesondere bei Institutionen und den Trägern, die dadurch ausgelöste fehlende Planbarkeit. Zusammenfassend reichten die bereits beschriebenen Problematiken von Informationsdefiziten, über Angebotsdefizite bis zu legistischen Inklusionshemmnissen durch die COVID-19-Pandemie. All diese Probleme verschärften die Situation für die Betroffenen und überlasteten ein ohnehin bereits fragiles System.
Psychische Situation
Der Kapazitätsmangel in der Versorgung und Beratung von Menschen mit psychischen Problemstellungen, welche Einfluss auf die Armutsdynamik mit sich bringt oder diese erst bedingt, hat sich durch die Pandemiesituation drastisch verschärft. Die Inhalte der Interviews legen eine Situation nahe, in der es in Tirol an verfügbaren und leistbaren ambulanten Therapieangeboten für Betroffene fehlt. Kassenfinanzierte Modellplätze sind meist ausgebucht und es bestehen Wartezeiten von mehreren Monaten. Private Anbieter sind, für betroffene Personen nur schwierig bis gar nicht leistbar. Ein Grund für die hohen Kosten privater Anbieter sind, wie schon erwähnt, die sehr hohen Ausbildungskosten im therapeutischen Bereich, die im Nachgang auf das Angebot umgelegt werden müssen. Für Menschen mit psychischen Problemlagen, die von einer stationären Behandlung absehen, bleibt nur monatelange Wartezeiten in Kauf zu nehmen und darauf zu hoffen, dass sich die Situation nicht zuspitzt.
Aus Perspektive der Träger*innen bestehen nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich Kapazitätsdefizite. Bestehende Wohnplätze für Menschen mit psychischen Erkrankungen die aus gesundheitlichen und meist auch finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, Mietkosten zu decken oder eine Unterkunft zu halten, sind rar. Prekäre Situationen ergeben sich aus oft langen Krankheitsbiographien mit atypischen Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnissen, womit die Voraussetzungen für Transferleistungen oft nicht gegeben sind. Aus den Berichten der Träger*innen geht hervor, dass Betroffene häufig aus der stationären Behandlung in die Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit übergehen, was in absehbarer Zeit erneut zur Krisensituationen und somit zur ambulanten oder stationären Behandlung führt. Dieser Übergang in die Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit wird damit assoziiert, dass Fristen und Formalien für Transferleistungen von Armutsbetroffenen mit psychischen Erkrankungen nicht oder nur sporadisch bedient werden, soziale Netzwerke fehlen und auf dem privaten Wohnungsmarkt häufig Abstand von Mietern mit Besachwaltung oder erkennbarer psychischen Erkrankung genommen wird.
Handlungsfelder
Informationsmanagement
Unter den Beiträgen der Teilnehmer*innen lassen sich zwei zentrale Handlungsfelder identifizieren, um den Problematiken der Informationsdefizite, der falschen Informationen und dem Modus der Informationsakquise zu begegnen. Für das erste Feld ist die Verdichtung der Vernetzung der beteiligten Akteure (Träger, Institutionen, Arbeitsämter, Betroffenen- und Angehörigenvertretungen, politische Akteure) im Dienstleistungsbereich für Menschen mit Behinderungen zentral. Dabei steht die regionale und interregionale Zusammenarbeit über Kooperationsnetzwerke im Vordergrund. Dies soll dem Informationsaustausch über nationale Grenzen hinweg dienen, um so Informationslücken über regionale und interregionale Angebote zu schließen und falschen Informationen vorzubeugen.
Das zweite Handlungsfeld bezieht sich auf sozialraumnahe Anlaufstellen, die Informationen zu regionalen und interregionalen Angeboten, Finanzierungsmöglichkeiten oder gesetzlichen Grundlagen zentralisiert und barrierefrei bereitstellen. Kernelemente sind es, für die Teilnehmer*innen niederschwellige und barrierefreie Zugangsmöglichkeiten zu schaffen, um verdichtete, transparente und unabhängige Informationen über die Soziallandschaft zu erlangen.
Besonderes Augenmerk liegt dabei auf einer partizipativen Konzeption, die den Bedürfnissen aller beteiligten Stakeholder gerecht wird.
Angebotsdefizite
Aus den Berichten der Teilnehmer*innen können drei Handlungsfelder abgeleitet werden. Das erste Handlungsfeld richtet sich an die regionale und interregionale Infrastrukturentwicklung. Vordergründig ist, neben Linienausbau und Frequenz, eine generelle Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr zu gewährleisten. Diese sollte Haltestellen, Bahnhöfe und Ähnliches einschließen. Entwicklungsbestrebungen sollten, wo es möglich ist, an den Bedarfen ausgerichtet werden. Entscheidend ist zudem die interregionale Kooperation von politischen Akteuren und der Verwaltung, um einheitliche grenzübergreifende Grundlagen und Angebote zu schaffen und Abgrenzungsschwierigkeiten in den Verantwortungsbereichen auszuräumen.
Der zweite Bereich befasst sich mit den gegebenen Mobilitätsförderstrukturen für Menschen mit Behinderungen. Hier sind zwei gegenläufige Tendenzen unter den Teilnehmer*iinnen erkennbar. Eine Richtung tendiert zu erhöhten und einkommensunabhängigen Förderungen mit geringerem bürokratischem Aufwand in der Antragsstellung. Dabei sollen auch Informationsstellen geschaffen werden, die über Förderlandschaften und Antragsbedingungen hinweg beratend tätig sind. Die zweite Strömung setzt hingegen auf eine generelle Kostenfreistellung für Menschen mit Behinderungen bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. Finanzielle und bürokratische Hürden sollen dadurch minimiert bzw. abgebaut werden.
Das dritte Handlungsfeld bezieht sich auf die Angebotsentwicklung für Menschen mit Behinderungen, die bestenfalls nicht als getrennte Leistungen spezifisch für diese Personengruppe, sondern inkludiert als Leistungen für alle ausgestaltet sind. Kernelemente sind eine partizipative und sozialraumnahe Ausgestaltung von Angeboten mit dem Ziel, Fahrwege oder Fahrtzeiten und den Bedarf öffentlicher Verkehrsmittel im alltäglichen Leben zu verringern.
Grad der Behinderung
Mögliche Handlungsfelder drehen sich um Änderungen im Begutachtungsprozess, Unterstützungsmechanismen bei negativen Bescheiden sowie legistischen Adaptionen. Angesprochene Änderungen im Begutachtungsprozess betreffen die Neuausrichtung der medizinisch defizitorientierten Einstufungskriterien, individuell angepasste Begutachtungsprozesse mit partizipativer Ausarbeitung behördlicher Bescheide, die den Kompetenzen und Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen und die freie Wahl der Ärztin oder des Arztes für die Einstufung. Für die Schaffung von Unterstützungsmechanismen während des Begutachtungsprozesses würden sich der Ausbau bzw. die Involvierung von Behinderten- und Patientenvertretungen sowie Volks-, Patient*innen- und Behindertenanwält*innen anbieten. Diese sollen die Antragsstellung, Begutachtungsprozesse und Widersprüche gegen Einstufungsbescheide begleiten. Das letzte Handlungsfeld befasst sich mit legistischen Adaptionen auf nationaler und internationaler Ebene. Diese betreffen die Standardisierung des Einstufungsverfahrens innerhalb der Länder und daran gebundener Leistungsansprüche sowie die Harmonisierung der Definitionen und Einstufungen auf europäischer Ebene.
Arbeitsmarktinklusion
Als zentrales Handlungsfeld stellt sich die Sensibilisierung der Arbeitgeber*innen heraus.
Möglichkeiten bieten hier die Intensivierung der Begleitung, Beratung und Assistenz am Arbeitsplatz für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. Eine direkte Ansprache bzw. „Kaltakquise“ von Arbeitgeber*innen durch die zuständigen Dienste könnte zur Aktivierung beitragen. Zudem bedarf es im Bereich der Vermittlung, Begleitung, Beratung und Assistenz sowie bei Arbeitsplatzanpassungen einer zusätzlichen Ressourcenbereitstellung. Ein weiteres Handlungsfeld bezieht sich auf die Informationsdistribution um falsche Informationen (z.B. erhöhter Kündigungsschutz, Minderleistungszuschüsse o. Ä.) vorzubeugen. Da die Verantwortungsdistribution zulasten der Arbeitgeber*innen (finanzielles Risiko und nachteilsfreier Ausstieg) ein Hemmnis darstellen kann, könnten bestehende Rahmenbedingungen angepasst werden, um Inklusionschancen zu fördern. Ob eine Vermittlung stattfindet bzw. angestrebt wird, oder der Verbleib in geförderten Beschäftigungsstrukturen gewünscht ist, wird subjektiv als zentraler Aspekt der Selbstbestimmung wahrgenommen. Wenn die sozialraumnahe Inklusion und Teilhabe von Menschen das oberste Ziel ist, dann kann diese der Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt wie er aktuell ausgestaltet ist durchaus entgegenstehen. Die Etablierung eines inklusiven ersten Arbeitsmarktes hat hier Priorität. Auch hier könnten die zusätzliche Informationsverbreitung und Sensibilisierung der involvierten Akteure Abhilfe schaffen.
Zuletzt wird auf das Feld der bestehenden Sanktionssysteme verwiesen.
Digitalisierung
Unter den Beiträgen der Teilnehmer*innen finden sich in diesem Zusammenhang drei Handlungsfelder.
Das erste Handlungsfeld bezieht sich auf die Schaffung eines altersaffinen und inklusiven Qualifizierungssystems zur Erlangung der nötigen Medienkompetenzen. Neben Menschen mit Behinderungen sollten auch für Assistent*innen Angebote geschaffen werden, um eine kompetente Begleitung zu ermöglichen. Dabei sind selbstbestimmte und individuelle vor Universallösungen anzustreben. Um der sozialen Isolation vorzubeugen, könnten zweitens zusätzliche Begegnungsräume (z.B. Inklusionscafés), regelmäßige Arbeitstreffen trotz digitaler Lösungen und inklusive Freizeitangebote einen Ausgleich bringen. Zuletzt bietet die Übergabe einfacher Tätigkeiten in die öffentliche Hand, bzw. die Incentivierung von Unternehmen, solche Tätigkeiten eben nicht zu automatisieren, Möglichkeiten der Automatisierungsproblematik zu begegnen.
COVID-19 Wirkungshorizonte
Handlungsfelder beziehen sich hier auf eine facettenreichere und diversifizierende Distinktion bei Zuordnungsprozessen zu Risikogruppen sowie Infrastrukturanpassungen für die Krisenbewältigung und des Krisenmanagements. Zusätzlich sollten weitere Unterstützungssysteme für pflegende Angehörige geschaffen werden. Um die Kapazitätsgrenzen in den Soziallandschaften nicht auszureizen bzw. zu überfordern, sollte über die Erhöhung von Personalschlüsseln nachgedacht werden. Auch hier ist die Schaffung sicherer und inklusiver Begegnungsräume zentral, um der sozialen Isolation vorzubeugen. Ein transparentes Krisenmanagement und eine partizipative Krisenkommunikation würde den Stakeholdern mehr Planungssicherheit bieten. Generell wurde ersichtlich, dass die Orientierung der Förder-, Beratungs- und Betreuungsleistungen am unteren finanziellen Spektrum keinesfalls Krisensicherheit mit sich bringt. Die Aufrechterhaltung vieler Angebote hängt unter COVID-19-Bedingungen sehr stark von den intrinsischen Motiven der betreuenden Instanzen ab.
Handlungsempfehlungen
Aus den oben beschriebenen Handlungsfeldern lassen sich vier Handlungsempfehlungen für Menschen mit Behinderungen ableiten:
- Partizipative Neubewertung der Einordnung von Menschen mit Behinderungen als COVID-19-Risikogruppe durch diversifizierende, Unterschiede anerkennende Einstufungsprozesse.
- Infrastrukturanpassungen für Krisenbewältigung und Krisenmanagement. Ausbau von Bewegungsräumen, Etablierung partizipativer Krisenteams in Einrichtungen, transparente Kommunikation von und mit allen Stakeholdern.
- Zusätzliche Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige in Krisensituationen, um ausfallende Dienstleistungsstrukturen aufzufangen.
- Kapazitätsdefizite ausgleichen durch höhere und krisenfeste Personalschlüssel bzw. Ressourcenplanung.
Für ihre Studie zu den Folgen der Corona-Pandemie auf vulnerable Personengruppen in Tirol wurden Lukas Kerschbaumer, Sascha Gell und Pia Reichmann mit dem Wissenschaftspreis der Arbeiterkammer Oberösterreich ausgezeichnet.
KHE, Quelle: Armutsbetroffenheit in der Krise