Stellungnahme zur Bürgerinitiative „Recht auf Bildung für ALLE Kinder – Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit Behinderung“
Diese Stellungnahme wurde gemeinsam mit dem Elternverein „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen – Integration Wien“ verfasst und abgegeben.
Der Österreichische Behindertenrat ist die Interessenvertretung der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen in Österreich. In ihm sind 80 Mitgliedsorganisationen organisiert. Auf Grund der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen verfügt der Österreichische Behindertenrat über eine einzigartige Expertise zu allen Fragen, welche Menschen mit Behinderungen betreffen.
Der Elternverein Integration Wien arbeitet seit über 30 Jahren für die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen.
Wir danken dem Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen für die Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zu o.a. Bürgerinitiative und erlauben uns diese wie folgt auszuführen:
Der Österreichische Behindertenrat und Integration Wien unterstützen die ins Parlament eingebrachte Bürgerinitiative betreffend ein „Recht auf Bildung für ALLE Kinder – Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit Behinderung“.
Begründung
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)
Der Österreichische Behindertenrat fordert ein inklusives Bildungssystem entsprechend den in der UN-BRK festgelegten Rechten, worin allen Kindern die größtmögliche Bildung zukommen muss. Die UN-BRK fordert die Einrichtung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen. Dieses müssen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen chancengleich mit Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung besuchen können.
Chancengleiche Bildungsmöglichkeiten vor der Pflichtschule
Derzeit finden Kinder mit Behinderungen, z.B. im Bundesland Wien, nicht die gleichen Bildungsmöglichkeiten wie Kinder ohne Behinderungen in der elementaren Bildung vor, da sie oft jahrelang auf einen Kindergartenplatz warten. Im derzeitigen Kindergartenjahr 2022/23 fehlen über 1.000 Plätze für Kinder mit Behinderungen. Häufig wird Kindern mit Behinderungen erst im verpflichtenden halbtägigen Kindergartenjahr – ein Jahr vor Beginn der Schulpflicht – ein Platz bereitgestellt. Durch den fehlenden Rechtsanspruch, durch ein mangelndes Platzangebot, durch unzureichende strukturelle Rahmenbedingungen aber auch durch die Nichtbereitstellung von Supportsystemen (z.B. individuelle Assistenz) in einigen Bundesländern erfahren Kinder mit Behinderungen eine massive Ungleichbehandlung gegenüber Kindern ohne Behinderungen. Ihnen wird nicht nur Teilhabe an Bildungsangeboten verwehrt, sondern ebenso die soziale Interaktion mit gleichaltrigen Kindern verunmöglicht. Der Österreichische Behindertenrat und Integration Wien fordern einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz mit gleichzeitiger Bereitstellung von entsprechenden Rahmenbedingungen und Supportsystemen für öffentliche und private Kindergärten, Kindergruppen und in der Betreuung durch Tageseltern.
Inklusive Bildung
Es ist evident, dass Bildung der Grundstock für das weitere Leben aller Kinder und Jugendlichen bedeutet. Abgesehen davon, dass Bildung es erlaubt, das Leben selbstbestimmt zu gestalten und feststeht, dass je mehr Ausbildungen und Kompetenzen ein Mensch besitzt, desto breiter seine weiteren Möglichkeiten für eine sinnstiftende Arbeit sind, bedeutet eine inklusive Schule aber auch, dass Kinder mit und ohne Behinderungen das gemeinsame Verständnis füreinander erfahren und frühzeitig lernen, wie sie miteinander leben und miteinander umgehen können. Das ist der Beginn der inklusiven Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an unserer Gesellschaft.
Chancengleiche Bildungsmöglichkeiten über die Pflichtschule hinaus
Viele Jugendliche mit Behinderungen benötigen eine längere Entwicklungs- und Reifezeit, um sich kognitive, lebenspraktische und persönliche Kompetenzen anzueignen und um eine Berufsentscheidung treffen zu können.
Gesetzlich geregelt ist, dass Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf für die Genehmigung eines elften und zwölften Schuljahres, die Zustimmung des Schulerhalters und die Bewilligung der zuständigen Schulbehörde benötigen. Dabei sind Eltern gefordert, sich rechtzeitig um eine Beantragung zu bemühen. Dadurch entsteht österreichweit eine sehr unterschiedliche Bewilligungspraxis (in Wien wird sie fast gar nicht mehr erteilt, in den anderen Bundesländern meistens). Dies auch deshalb, weil es keine klaren Regeln gibt, wann eine Genehmigung erteilt wird beziehungsweise wann sie abgelehnt wird.
Ausbildungspflicht bis 18
Aus diesen Erwägungen heraus ist es unabdingbar, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, über die Pflichtschulzeit hinaus, in einem freiwilligen 11. und 12. Schuljahr die Schule besuchen können. Um das Recht auf Bildung zumindest bis zum 18. Lebensjahr auch für Jugendliche mit Behinderungen zu verankern, fordern der Österreichische Behindertenrat und Integration Wien einen Rechtsanspruch auf den Besuch des 11. und 12. Schuljahres mit entsprechenden Rahmenbedingungen festzuschreiben. In diesem Zusammenhang ist jedoch anzumerken, dass auch bei einem neu verankerten Rechtsanspruch von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf ein 11. und 12. Schuljahr eine Diskriminierung gegenüber Jugendlichen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf besteht, weil diese die Möglichkeit haben, Bildung in einem 13. und 14. Schuljahr in Anspruch zu nehmen. Eine weitere Ausdehnung des Rechtsanspruchs von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf ein 13. und 14. Schuljahr ist daher geboten, wobei dieser einen entsprechenden Lehrplan (und auch) mit weiterführenden Ausbildungsangeboten umfassen muss.
Inklusive Bildung auch in der Sekundarstufe II
Daraus folgt, dass generell gesetzliche Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts für ALLE Jugendlichen in der Sekundarstufe II, in Berufsbildenden Mittleren Schulen, Berufsbildenden Höheren Schulen, Fachschulen und Oberstufen von Allgemeinbildenden Höheren Schulen geschaffen und die entsprechenden Rahmenbedingungen bereitgestellt werden müssen. Eine Forderung die Behindertenvertreter*innen und Elternvereine seit über 20 Jahren stellen.
Gerne bringen der Österreichische Behindertenrat und Integration Wien ihre Expertise dazu ein.
Mit besten Grüßen
Für das Präsidium
Dr. Christina Meierschitz
Österreichischer Behindertenrat
Für Vereinsvorsitzenden Mag. Klaus Priechenfried
Mag. Petra Pinetz-Schmid
Integration Wien