Volksanwältin Gaby Schwarz und die Volksanwälte Mag. Bernhard Achitz und Dr. Walter Rosenkranz präsentierten am 26. April 2023 den Jahresbericht der Volksanwaltschaft 2022. Anhand einzelner Beschwerdefälle und Wahrnehmungen gaben sie Einblick in die Prüftätigkeit der Volksanwaltschaft im Bereich der „Kontrolle der öffentlichen Verwaltung“ sowie der „präventiven Menschenrechtskontrolle“.
Mit beinahe 24.000 eingebrachten Beschwerden erreichten die Volksanwaltschaft im Jahr 2022 so viele Anfragen wie noch nie zuvor. Der Bericht für das Jahr erscheint in zwei Bänden, die sich jeweils auf zwei zentrale Aufgaben der Volksanwaltschaft beziehen:
Band 1: Kontrolle der öffentlichen Verwaltung
Die Volksanwaltschaft überprüft aufgrund von Beschwerden von Bürger*innen sowie auf Basis eigener Wahrnehmungen die Arbeit der öffentlichen Verwaltung in Österreich. Dabei zeigt sie Defizite auf und drängt auf deren Beseitigung. Ist dies nicht möglich, übermittelt sie dem Parlament Vorschläge zu Gesetzesänderungen. Darüber hinaus erklärt die Volksanwaltschaft Verwaltungsabläufe und fungiert als Vermittlerin zwischen Bürger*innen und der Verwaltung.
Band 2: Präventive Menschenrechtskontrolle
Seit 2012 ist die Volksanwaltschaft für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte in Österreich zuständig. Sie hat den gesetzlichen Auftrag, öffentliche und private Einrichtungen zu überprüfen, in denen Menschen in ihrer Freiheit beschränkt werden. Dazu zählen Justizanstalten, Polizeianhaltezentren, Alten- und Pflegeheime, psychiatrische Abteilungen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Kontrolle erstreckt sich auch auf Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Zudem wird die Arbeit der Behörden bei Abschiebungen, Demonstrationen und Polizeieinsätzen beobachtet. Im Kern geht es darum, Risikofaktoren für Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen.
Über ihre Arbeit berichtet die Volksanwaltschaft regelmäßig an den National- und den Bundesrat.
Beschwerdeaufkommen im Bereich öffentliche Verwaltung
Im Jahr 2022 wandten sich 23.958 Menschen mit einem Anliegen an die Volksanwaltschaft. 16.911 Beschwerden betrafen die Verwaltung. Davon war es in 5.796 Fällen nicht erforderlich, die Behörden zu befassen. Diese konnten unmittelbar erledigt werden oder betrafen noch anhängige Verfahren. Bei 7.047 Vorbringen ging es um Fragen außerhalb des Prüfauftrags der Volksanwaltschaft, dafür war die unabhängige Gerichtsbarkeit zuständig. In diesen Fällen stellte die Volksanwaltschaft Informationen zur Rechtslage zur Verfügung und informierte die Betroffenen über weitergehende Beratungsangebote. Im Berichtsjahr konnten 10.508 Prüfverfahren abgeschlossen werden. Davon stellte die Volksanwaltschaft in 2.278 Fällen, also rund einem Fünftel, einen Missstand in der Verwaltung fest.
Rund ein Viertel aller Prüfverfahren (23,3 %) betraf den Bereich Soziales und Gesundheit. Viele Beschwerden gab es nach wie vor in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Ein weiteres zentrales Beschwerdethema waren Probleme mit der Sozialversicherung. Unverändert hoch ist das Beschwerdeaufkommen von Menschen mit Behinderungen.
Präventiver Schutz der Menschenrechte
Gemeinsam mit ihren Expertenkommissionen bildet die Volksanwaltschaft den Nationalen Präventionsmechanismus (NPM). Sechs regionale Kommissionen und eine Bundeskommission besuchen Einrichtungen in der Regel unangekündigt mit dem Ziel, Verbesserungspotenzial zu erkennen und gemeinsam mit der Volksanwaltschaft umzusetzen. Die Kommissionen stoßen mitunter auch auf Missstände, die es zu beheben gilt. Durch regelmäßige Besuche und die Empfehlung präventiver Maßnahmen sollen diese Missstände in Zukunft verhindert werden.Diese führten im Berichtsjahr insgesamt 481 Kontrollen durch. 460 Kontrollen fanden in Einrichtungen statt, in denen Menschen angehalten werden. 21-mal wurden Polizeieinsätze begleitet.
In 70 % der präventiven Kontrollen sahen sich die Kommissionen veranlasst, die menschenrechtliche Situation zu beanstanden. Die Volksanwaltschaft prüft diese Fälle auf Grundlage der Wahrnehmungen der Kommissionen und setzt sich mit den zuständigen Ministerien und Aufsichtsbehörden in Verbindung, um auf Verbesserungen hinzuwirken. Viele festgestellte Missstände und Gefährdungen konnten dadurch bereits beseitigt werden. Ergebnis dieser Prüftätigkeit sind zahlreiche Empfehlungen der Volksanwaltschaft, die menschenrechtliche Standards in den Einrichtungen gewährleisten sollen.
Die Liste aller Empfehlungen (2012 – 2022) ist auf der Website der Volksanwaltschaft abrufbar.
Probleme bei Familienleistungen
Über 20 Fälle hatte die Volksanwaltschaft zu bearbeiten, in denen Eltern von Kindern mit Behinderungen Probleme hatten, die erhöhte Familienbeihilfe zu bekommen. Sie haben oft hohe Ausgaben für Therapien. Die Behörden verlangen genaue Befunde. Gerade bei psychischen Erkrankungen, z.B. jenen aus dem Autismus-Spektrum, bestehen aber oft bereits jahrelang Symptome, aber keine mit Befunden nachgewiesenen Diagnosen. Im Fall eines jungen Mannes mit Asperger-Syndrom (Variante des Autismus) lehnte das Finanzamt die erhöhte Familienbeihilfe ursprünglich ab, da er keine Befunde aus der Zeit vor dem 21. Lebensjahr vorlegen konnte. Zudem kritisiert die Volksanwaltschaft, dass die Behörden auf Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner zurückgreifen und nicht auf Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie bzw. Psychiatrie.
Personalmangel gefährdet Menschenrechte
Die Kommissionen der Volksanwaltschaft besuchen Altersheime, Psychiatrien, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sowie für Menschen mit Behinderungen. So unterschiedlich diese Einrichtungen sind, so sehr zieht sich eine Gemeinsamkeit durch die Beobachtungen der Kommissionsmitglieder: „Überall herrscht Personalmangel, und der führt zu schweren Menschenrechtsverletzungen“, so Volksanwalt Achitz: „Das Problem ist nicht neu, die Volksanwaltschaft weist seit Jahren darauf hin, aber Corona hat es weiter verschärft.“
Heimopferrente
Viele Jahrzehnte hindurch wurden Kinder und Jugendliche in Einrichtungen und bei Pflegefamilien misshandelt und gequält. Als Anerkennung des Unrechts erhalten sie eine monatliche Zusatzrente. Sie beträgt 367,50 Euro (Wert 2023) und wird brutto für netto zwölf Mal jährlich ausbezahlt. Die Volksanwaltschaft kritisierte in den vergangenen Jahren, dass arbeitsunfähige Personen, die wegen des Familieneinkommens keinen Anspruch auf Mindestsicherung haben, auch keine Heimopferrente erhalten. Ein Initiativantrag, mit dem diese Ungleichbehandlung beseitigt werden soll, wurde Ende 2022 im Parlament eingebracht und Anfang 2023 mit den Stimmen aller Parteien beschlossen.
2022 meldeten sich besonders viele gehörlose Menschen. Obwohl gehörlose Kinder ein besonderes Maß an Unterstützung und Förderung bedurft hätten, waren sie in den Taubstummenanstalten dem sadistischen Treiben von Erzieher*innen sowie dem Lehrpersonal in den angeschlossenen Sonderschulen ausgesetzt.
Kritik übt die Volksanwaltschaft an jenen Opferschutzstellen, die Entschädigungen bereits wieder eingestellt haben. Das betrifft Opfer von Wiener Einrichtungen sowie von Bundeseinrichtungen. Lücken gibt es auch in Oberösterreich.
Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen
2022 besuchten die sechs regionalen Kommissionen 135 Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Nach zehn Jahren der NPM-Tätigkeit zeigt sich, dass viele Einrichtungen ihre Arbeit an den Vorgaben der Un-Behidnertenrechtskonvention (UN-BRK) ausrichten wollen. Gravierendste Missstände werden seltener beobachtet und für manche Probleme gibt es tendenziell ein größeres Bewusstsein. Das zeigt sich auch darin, dass die Zahl der Einrichtungen, bei denen die Kommissionen kaum Kritikpunkte formulieren, im Steigen ist. Gleichzeitig müssen die Volksanwaltschaft und ihre Kommissionen Jahr für Jahr feststellen, dass Menschen mit Behinderungen in vielen Einrichtungen nicht die ihnen zustehenden Menschenrechte genießen können.
Das ist zuerst auf die ungenügenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen, die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung nach wie vor verhindern: Zersplitterung der Regelungen zwischen dem Bund und neun Bundesländern; die Ausrichtung vieler Gesetze an dem medizinischen Modell der Behinderung anstelle des sozialen Modells; das Fehlen klarer De-Institutionalisierungsstrategien; die Erbringung von Leistungen ohne Rechtsanspruch; keine ausreichende sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Betroffenen; keine Versorgungssicherheit für viele Menschen mit Behinderungen und ein System, das sich vor allem bei lebensandauernder Behinderung auf das familiäre Umfeld verlässt. Letzteres zeigt sich bei Kindern jeder Altersklasse, aber ganz besonders gravierend bei Babys bzw. Kleinkindern, für die es teilweise keine Angebote außerhalb der Familie gibt.
Auch Einrichtungen fehlt Bewusstsein für Probleme
Aber auch in Einrichtungen sowie bei Behörden fehlt häufig ein klares Bewusstsein für Bereiche, die selbstverständlich sein sollten. Als Folge sind beispielsweise Barrierefreiheit, Unterstützte Kommunikation, Wahlmöglichkeit des Wohnorts bzw. der Beschäftigung oder Teilhabe an der Gesellschaft noch immer keine Selbstverständlichkeit.
Prüfschwerpunkt (sexuelle) Selbstbestimmung
Ein Thema, das zu Beginn der NPM-Tätigkeit eher vernachlässigt wurde, ist die (sexuelle) Selbstbestimmtheit von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen. Wie schon im letztjährigen Bericht angekündigt, legte die VA gemeinsam mit den Kommissionen diesen Bereich als Prüfschwerpunkt fest. Ziel ist es, einen Überblick über die aktuelle Situation in Bezug auf die (sexuelle) Selbstbestimmtheit zu erhalten.
Dafür wurde ein Erhebungsbogen entworfen, der zwischen den Kommissionen und der VA abgestimmt wurde. Bei der partizipativen Erstellung des Katalogs wurden Vorschläge aus den verschiedenen Fachrichtungen gesammelt und es wurde gemeinsam ein finales Dokument entwickelt. Zur Vorbereitung auf den Schwerpunkt organisierte die Volksanwaltschaft einen Erfahrungsaustausch mit Expertinnen im Bereich Gewaltschutz und Sexualität von Menschen mit Behinderungen.
Dabei wurden Erfahrungen zwischen Kommissionsmitgliedern und dem Verein „Ninlil – Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung‟ sowie dem Verein Hazissa ausgetauscht. Im Fokus stand die Gesprächsführung mit Menschen mit Behinderungen über das wichtige, aber manchmal auch heikle Thema sexuelle Selbstbestimmung.
Vertreterinnen des Vereins „Ninlil‟ boten einen Überblick über ihre Beratungstätigkeit. Anhand von Fallbeispielen, Bildern und Materialien zur Unterstützten Kommunikation legten sie dar, wie sie die Themen Sexualität, sexuelle Aufklärung und selbstbestimmtes Leben auch mit nonverbalen Kundinnen und Kunden erörtern. Mitglieder der Expertenkommissionen der VA berichteten aus ihrer Praxis im Rahmen der Kommissionsbesuche.
Die Vertreterin des Vereins „Hazissa‟ berichtete über die Studie „Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen‟ (2019, Mayrhofer, Mandl, Schachner, Seidler), für die mehr als 300 Interviews mit Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen durchgeführt wurden.
Menschen mit Behinderungen häufig Opfer von Gewalt
Die Ergebnisse der Studie waren alarmierend. 72,5 % der befragten Menschen mit Behinderung gaben an, bereits Opfer physischer Gewalt gewesen zu sein. Menschen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung werden auch häufiger Opfer von sexueller Gewalt. Die Studienergebnisse verdeutlichen zudem, dass es für Menschen mit Behinderungen nach wie vor alles andere als selbstverständlich ist, Sexualität leben zu können. Nur etwa die Hälfte gab an, ausreichend über Sexualität aufgeklärt worden zu sein, sei es durch Schule, Elternhaus oder Einrichtung – ohne Aussagen über die Qualität der stattgefundenen sexuellen Bildung.
Sexuelle Selbstbestimmung beinhaltet aber nicht das Recht auf eine erfüllte Sexualität oder ist generell auf sexuelle Aktivitäten beschränkt. Der Bereich umfasst auch Themen wie Partnerschaft und Liebe, Privatsphäre, sexuelle Aufklärung, Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie Schutz vor sexueller Gewalt und Belästigung.
Kein Alterslimit für sexuelle Selbstbestimmung
Ein weiteres Missverständnis gibt es in Bezug auf ältere Menschen. Für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gibt es kein Alterslimit, und ältere Menschen sind selbstverständlich mitumfasst. Aussagen wie „ältere Bewohnerinnen und Bewohner haben kein Interesse mehr an Sexualität‟ zeigen eine grundlegende Unkenntnis des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung.
Der Prüfschwerpunkt ist zum Zeitpunkt der Berichterstellung noch nicht abgeschlossen. Die ersten Protokolle zeigen neben positiven Beispielen, dass manche Einrichtungen sich kaum mit dem Thema beschäftigt haben und andere zwar sexualpädagogische Konzepte erarbeiten, aber nicht umsetzen.
Aus manchen Einrichtungen berichten Kommissionen sogar von Rückschritten. Zahlreiche Einrichtungen setzen sich mit dem Thema nicht ausreichend auseinander. Generell ist sexuelle Selbstbestimmung für die Bewohnerinnen und Bewohner keine Realität.