Am 26. April 2023 forderte der Österreichische Behindertenrat in einer Aussendung Bildungsminister Univ.-Prof. Dr. Martin Polaschek auf, Persönliche Assistenz in Bundesschulen auf alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen auszuweiten. Denn das Verbandsklage-Urteil bestätigt, dass die bestehende Regelung diskriminierend ist.
OTS vom 26. April 2023: Bildungsminister muss Persönliche Assistenz in Bundesschulen auf alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen ausweiten
Einem Rundschreiben des Bildungsministeriums zufolge erhalten nur Schüler*innen mit einer körperlichen Behinderung ab einer Pflegegeldstufe 5 (in Ausnahmefällen ab Stufe 3) beim Besuch einer Bundesschule Persönliche Assistenz. Alle anderen Kinder mit Behinderungen – etwa Sinnesbehinderungen oder psychosozialen Behinderungen sowie körperlichen Behinderungen, die eine niedrigere Pflegestufe zur Folge haben – bekommen keine Persönliche Assistenz und werden damit vom einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung ausgeschlossen.
Da diese diskriminierende Situation trotz massiver Kritik an dem Rundscheiben seitens der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen in den letzten Jahren nicht verbessert wurde, reichte der Klagsverband im Jahr 2021 eine Verbandsklage gegen die Republik ein. Es ist in Österreich die erste und bisher einzige Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz. Das Wiener Handelsgericht folgt dem Klagsverband in allen drei Punkten und stellt im Urteil vom 31. März 2023 eine Diskriminierung nach dem Behindertengleichstellungsgesetz fest. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Republik, vertreten durch die Finanzprokuratur, kann noch bis 2. Mai 2023 Berufung einlegen.
Das nun vorliegende Urteil erster Instanz spricht ganz klar aus, dass Persönliche Assistenz allen Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen offen stehen muss und daher die bisherige Regelung diskriminierend ist.
„Wir fordern den Bildungsminister auf, umgehend auf das Urteil zu reagieren und das Rundschreiben schnellstmöglich zu überarbeiten, sodass alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen, die Persönliche Assistenz benötigen, diese auch für den Besuch von Bundesschulen bekommen“, so Klaus Widl, Präsident des Österreichischen Behindertenrates, in der Aussendung.
Am 26. April erklärte das Büro von Minister Martin Polaschek, dass keine weiteren rechtlichen Schritte gesetzt würden. Man werde das Urteil rasch umsetzen und die gerichtlich festgestellten Mängel beheben.
Hintergrund
Der Klagsverband ist ein Dachverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern mit 67 Mitgliedsorganisationen. Kernaufgabe des Klagsverbands ist strategische Prozessführung im Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsrecht.
Worum geht es in diesem Verfahren genau?
Ohne Assistenz können viele Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht gleichberechtigt am Schulleben teilnehmen. Derzeit gibt es diese Unterstützung für den Besuch von Bundesschulen (also zum Beispiel AHS und BHS) nicht für alle Schüler*innen mit Behinderungen, sondern nur wenn eine körperliche Behinderung ab einer Pflegegeldstufe 5 (in Ausnahmefällen ab Stufe 3) vorliegt. Schüler*innen mit anderen Behinderungen, also zum Beispiel aus dem Autismus–Spektrum oder mit einer Sinnesbehinderung, haben keinen Anspruch auf diese Form der Unterstützung. Oft gibt es auch keine andere geeignete Unterstützung, so dass sie auf eine Sonderschule oder eine Mittelschule ausweichen müssen.
Wieviele Schüler*innen sind betroffen?
Das Wiener Handelsgericht bestätig mit dem Verbandsklage–Urteil, dass die im Verfahren vorgebrachten Diskriminierungsfälle keine Einzelfälle sind, sondern auf eine strukturelle Diskriminierung von Schüler*innen mit Behinderungen schließen lassen. Der Klagsverband geht davon aus, dass österreichweit zumindest einige hundert Kinder und Jugendliche mit Behinderungen beim Zugang zu Assistenzleistung diskriminiert werden und daher nicht diskriminierungsfrei am Unterricht teilnehmen können oder mangels Unterstützung eine gar nicht besuchen können.
Was ist eine Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz?
Die Verbandsklage ist eine Klagemöglichkeit nach dem Behindertengleichstellungsgesetz. Das Gesetz hat zum Ziel, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern. Es soll die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Wird gegen das Behindertengleichstellungsgesetz verstoßen und dadurch das allgemeine Interesse von Menschen mit Behinderungen wesentlich und dauerhaft beeinträchtigt, kann mittels Verbandsklage dagegen vorgegangen werden.
Wer kann eine Verbandsklage einbringen?
Das Behindertengleichstellungsgesetz regelt, wer eine Verbandsklage einbringen kann: der Österreichische Behindertenrat, der Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern und der Behindertenanwalt bzw. die Behindertenanwältin.
Wie geht es nach dem Urteil weiter?
Die Finanzprokuratur, die die Republik und den Bildungsminister im Verfahren vertritt, könnte bis 2. Mai 2023 Berufung einlegen. Als zweite Instanz wäre das Oberlandesgericht Wien zuständig. Der Klagsverband rechnet sich gute Chance aus, das Verfahren auch in zweiter Instanz zu gewinnen. Legt die Finanzprokuratur keine Berufung ein, wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig. Der Bildungsminister wäre damit gefordert, künftig einen diskriminierungsfreien Zugang zu persönlicher Assistenz für Schüler*innen mit Behinderungen sicherzustellen.
Gibt es nicht schon Lösungen, wie die kürzlich geschaffene „Schulassistenz Autismus“?
Die an Bundesschulen eingeführte Assistenzmöglichkeit für Schüler*innen aus dem Autismus–Spektrum bietet, wie auch das Gericht feststellte, nicht in jedem Fall einen gleichwertigen Ersatz für Persönliche Assistenz, insbesondere weil hier oft zu wenige Stunden zur Verfügung gestellt werden. Aktuell sind das maximal acht Stunden pro Woche. Das reicht für etliche Schüler*innen aus dem Autismus–Spektrum nicht aus.
Schüler*innen mit anderen Behinderungen haben nach wie vor gar keinen Anspruch auf eine bedarfsgerechte Assistenz.
Nach Einbringen der Verbandsklage des Klagsverbands hat das Bildungsministerium zudem für Schüler*innen mit körperlicher Behinderung eine Assistenzgewährung auch für mehrtätige Schulveranstaltungen eingeführt, davor konnten diese Schüler*innen hier mangels Unterstützung in der Regel einfach nicht teilnehmen. Auch in diesem Punkt hat das Gericht eine Diskriminierung festgestellt.
Rechtliche Aussagen des Urteils
Wesentliche rechtliche Aussagen des Urteils sind laut Theresa Hammer, Leitung der Rechtsdurchsetzung des Klagsverbands:
I. Das Gericht stellt fest: Die Republik Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderung. Der Ausschluss von bestimmten Gruppen von Schüler*innen mit Behinderungen von Assistenzleistungen auf Basis eines Rundschreibens des Bildungsministeriums ist diskriminierend. Dazu zählen unter anderem Schüler*innen im Autismus–Spektrum sowie Schüler*innen mit Sinnesbehinderungen. Es handelt sich um mehrere Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG):
1) Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderungen mit geringer Pflegestufe, die auf Basis des Rundschreibens des Bildungsministeriums von Assistenzleistungen ausgeschlossen werden. Das betrifft auch die jetzt schon umfassten Schüler*innen mit körperlicher Behinderung.
2) Österreich diskriminiert Schüler*innen mit anderen Behinderungen – darunter Kinder und Jugendliche aus dem Autismus–Spektrum oder Schüler*innen mit Sinnesbehinderungen –, die auf Basis des Rundschreibens des Bildungsministeriums von Assistenzleistungen ausgeschlossen werden.
3) Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderungen bei der Teilnahme an Unterrichts– und Schulveranstaltungen. Schüler*innen mit Behinderungen können diese nicht diskriminierungsfrei besuchen, da Freistunden und befreite Unterrichtsfächer nach wie vor von der Persönlichen Assistenz ausgenommen sind. In einem früheren Rundschreiben des Bildungsministeriums (Nr.7/2017) waren zudem mehrtägige Schulveranstaltungen ausgenommen, was ebenso als Diskriminierung erkannt wird. (Urteil, S. 32)
II. Persönliche Assistenz ist ein geeignetes Mittel, um gleichberechtigte Teilhabe an Schulbildung zu ermöglichen. Das Gericht sieht es als diskriminierend an, Persönliche Assistenz pauschal von vornherein zu verweigern, nur weil eine andere Form der Behinderung als eine körperliche mit hoher Pflegegeldstufe vorliegt.
III. Stützlehrer*innen – die einzige sonstige Unterstützung, die das Ministerium konkret benennen konnte – sind nicht gleichzusetzen mit Persönlicher Assistenz, unter anderem weil es sich um keine selbstbestimmte Form der Unterstützung handelt.
– „Die Persönliche Assistenz verschafft den betroffenen Schüler:innen Selbstbestimmung.“ (Urteil, S. 17)
IV. Die vom Ministerium genannten Unterstützungsmöglichkeiten bieten nicht die gleiche Unterstützung wie persönliche Assistenz. (Urteil, S. 30)
V. Das Gericht betont den Grundsatz des Behindertengleichstellungsgesetz, wonach Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gewährleistet werden soll. (Urteil, S. 32)