Zuletzt beachtet, zuerst gestorben
Behörden haben Menschen mit Behinderungen nicht am Schirm. Im Haus der Lebenshilfe im deutschen Sinzig sind am Abend des 14. Juli 2021 achtunddreißig Menschen zu Bett gegangen. Wenige Stunden später, gegen 2:30 Uhr nachts, sind 12 von ihnen ertrunken. Der Fluss Ahr war über die Ufer getreten und hat das Erdgeschoss der Einrichtung bis zur Decke unter Wasser gesetzt. Weder die Behörden noch die Lebenshilfe haben die Menschen mit Behinderungen gewarnt. Niemand hat sie evakuiert. Allein dem einzigen Betreuer war es gelungen noch einige Bewohner*innen des Hauses an einen sicheren Ort zu führen und damit zu retten.
Die Behörden haben mit keinem so starken Hochwasser gerechnet. Dabei war bereits um 17:17 Uhr die höchste Warnstufe erreicht und per KATWARN App gewarnt worden: „Achtung, an der Ahr und ihren Zuflüssen ist die Hochwassergefahr sehr groß. Innerhalb der nächsten 24 Stunden ist mit Sturzfluten und Überflutungen zu rechnen.“ Kurz vor Mitternacht, um 23:09 Uhr, erfolgte die Aufforderung der Behörden zur Evakuierung 50 Meter links und rechts vom Fluss. Das war viel zu spät und unzureichend.
Das Haus der Lebenshilfe liegt 250 Meter vom Fluss entfernt. Zu diesem Zeitpunkt waren in der ganzen Region längst Strom, Internet und Handyempfang ausgefallen. Die Behörden hatten das Haus und die 38 Menschen mit Behinderungen schon lange vor der Flutnacht nicht am Schirm. Der Turnsaal einer nahe gelegen Schule war in Plänen der Behörden als kritische Infrastruktur vermerkt, das Haus der Lebenshilfe nicht.
Menschen mit Behinderungen – unsichtbar bis in den Tod
In derselben Nacht sind in den Dörfern entlang der Ahr insgesamt 134 Menschen ums Leben gekommen, davon waren 106 Personen über 60 Jahre alt. Gemäß UNO leben 46 Prozent der Menschen über 60 mit einer Behinderung. Hochgerechnet waren somit über 50 der Verstorbenen – und somit mehr als jedes dritte Todesopfer – der Gruppe der Menschen mit Behinderungen zuzurechnen. Die hohe Opferzahl unter Menschen mit Behinderungen wird von den Behörden totgeschwiegen.
Es wird nicht geklärt, unter welchen Umständen und warum so viele Menschen mit Behinderungen umgekommen sind. Die Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen vor, während und nach der Flutkatastrophe ist tödlich. Wird die hohe Opferzahl nicht thematisiert und analysiert, wiederholen sich die Tragödien für Menschen mit Behinderungen bei den nächsten Naturkatastrophen immer wieder aufs Neue.
Inklusiver Katastrophenschutz in Österreich? Fehlanzeige!
Wenn den Menschen das Wasser bis zum Hals steht, ist es zu spät zum Überlegen. In der Katastrophe muss allen Beteiligten – Betroffenen wie Rettungsorganisationen, wie Behörden – ganz klar sein, was zu tun ist. In der Katastrophe werden lange vorbereitete Pläne und Checklisten Punkt für Punkt abgearbeitet.
Die Planung von Katastrophenschutz fällt in Österreich in die Zuständigkeit der Länder. In neun verschiedenen Katastrophenhilfegesetzen geben die Länder den Rahmen auch für die Katastrophenschutzpläne vor. Menschen mit Behinderungen und Begriffe wie Barrierefreiheit kommen hier nicht vor. Kein Katastrophenhilfegesetz macht verbindliche Vorgaben zum Schutz von Menschen mit Behinderungen.
Die systematische Nichtbeachtung von Menschen mit Behinderungen setzt sich in den Katastrophenschutzplänen der Länder, Bezirke und Gemeinden fort. Das gefährdet Menschenleben.
Transparenz Null
So unsichtbar wie Menschen mit Behinderungen, sind die Katastrophenschutzpläne selbst. Kaum jemand kennt sie. Die Verantwortlichen halten sie verborgen. Praktisch nirgends sind sie online einzusehen. Fehler und Mängel in den Katastrophenschutzplänen bleiben so lange unentdeckt – bis zur nächsten Katastrophe.
Durch fehlende Transparenz wird erschwert, sich einen Überblick zu verschaffen und Verbesserungen zu erwirken. Denn es gibt keinen Ort, an dem Infos und Pläne zum Katastrophenschutz gesammelt vorliegen.
So wie die Kompetenzen im Katastrophenschutz zersplittert und verteilt sind, sind auch die Informationen zu Gesetzen, Verordnungen, Plänen, die Besetzung von Krisenstäben etc. weit verstreut. Bestmögliche Vorbereitung auf Extremereignisse sieht anders aus.
Menschen mit Behinderungen auch in Plänen unsichtbar
Die online Landkarte „WISA – Wasser Informationssystem Austria“ vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft zeigt für jeden Ort in Österreich, welche Gebiete bei unterschiedlich starken Hochwässern unter Wasser stehen. Sie zeigt, wie viele Menschen bei Überflutungen in einer Gemeinde betroffen sind und führt „betroffene Infrastruktur“ wie Kindergarten, Krankenhaus, Schule, Seniorenheim an. Was fehlt, sind Daten zu Menschen mit Behinderungen.
Menschen mit Behinderungen und die Orte, wo sie wohnen und arbeiten sind kein Thema. Die Karte zeigt Orte, an denen im Falle einer Überflutung ein besonderer Handlungsbedarf besteht. Werkstätten und Wohnheime sind nicht darunter.
Salzburg probt Katastrophenschutz zwischen Frühstück und Mittagessen
Regelmäßige und realitätsnahe Übungen sind entscheidend, damit im Falle einer Katastrophe alle Beteiligten vorbereitet sind und wissen, was zu tun ist. Dabei gilt es, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, um in jedem Fall gerüstet zu sein. Katastrophenübungen müssen das „Worst Case Szenario“ üben. Ende April hat Salzburg das Retten bei Hochwasser geübt. Tagsüber und bei Sonnenschein, bei perfektem Hubschrauberflugwetter. Übungsbeginn: 10:15 Uhr, Übungsende: 13 Uhr.
Menschen mit Behinderungen waren keine zu sehen. In der Übung gerettet wurden Jugendgruppen. Zur Erinnerung: Bei der Katastrophe im Ahrtal konnten Hubschrauber nicht fliegen, sind die Menschen in der dunklen Nacht ertrunken, ist die Behördenkommunikation, sind Strom, Handyempfang und Internet ausgefallen. Fazit: Das Land Salzburg hat sich für den Ernstfall nicht genügend vorbereitet.
Meterolog*innen: Niemand hätte sterben müssen
Der Deutsche Wetterdienst hat vor dem Ahrtal-Hochwasser bereits am 12. Juli vormittags – und damit 60 Stunden vor der Flut – mit folgenden Worten gewarnt: „Bis Donnerstagfrüh können aufsummiert örtlich begrenzt Regenmengen von bis zu 200 Liter pro Quadratmeter auftreten.“ Warnungen des Wetterdienstes ergingen an Feuerwehren, Polizeien, Einsatzstäbe, Landkreise und Kommunen.
Den Warnungen der Meteorolog*innen folgten nicht die erforderlichen, lebensrettenden Handlungen der Behörden und Einsatzkräfte. Im Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags haben mehrere Wetter-Experten deutlich gemacht, darunter auch Jörg Kachelmann, dass die Todesopfer zu vermeiden waren, weil die Behörden rechtzeitig gewarnt waren und reagieren hätten müssen. Bereits zwei Tage vor der Flutwelle hätten die Behörden Evakuierungen planen und die Bevölkerung vorwarnen können und müssen.
Appell an die Politik: Sichtbarkeit und Partizipation retten Leben
In Zusammenarbeit mit den Meteorolog*innen von Geosphere arbeitet der Österreichische Behindertenrat daran, dass die meteorologischen Warnungen auch zu lebensrettenden Handlungen führen. Und bei der
kontinuierlichen Weiterentwicklung des Wiener Hitzeaktionsplanes setzt sich der Österreichische Behindertenrat dafür ein, dass bei allen Maßnahmen Menschen mit Behinderungen und die Sicherstellung der Barrierefreiheit mitbedacht werden. Darüber hinaus ist noch viel zu tun.
An die politisch Verantwortlichen appelliert der Österreichische Behindertenrat: „Sorgen Sie dafür, dass Menschen mit Behinderungen im Katastrophenschutz endlich Thema werden! In den neun Katastrophenhilfegesetzen der Länder, den Katastrophenplänen der Bezirke und Gemeinden, in den Alarm- und Evakuierungsplänen. Der Österreichische Behindertenrat bietet dabei seine Unterstützung an.
Riskokarten
Risikokarten weisen potenziell betroffene Schutzgüter (Mensch, Umwelt, Kulturgut und Wirtschaft) bei unterschiedlichen Gefährdungsszenarien aus. Dazu werden potenziell betroffene Personen sowie Formen der Landnutzung innerhalb modellierter Überflutungsflächen dargestellt. Auf dieser Grundlage ist eine Abschätzung möglicher Konsequenzen eines bestimmten Hochwasserereignisses möglich. Zusätzlich zeigt die Karte Orte, an denen im Falle einer Überflutung besonderer Handlungsbedarf besteht (bspw. Krankenhäuser oder Verschmutzungsquellen). Extreme, seltene Hochwasserereignisse können Schutzanlagen überströmen bzw. diese zum Versagen bringen. In diesem Fall bleibt auch in Gebieten mit vorhandenem Hochwasserschutz ein Restrisiko bestehen.“
Die Wasser Karten Hochwasser-Risiko (bml.gv.at) zeigen an, wo im Fall einer Überflutung „besonderer Handlungsbedarf“ besteht. Gebäude, in denen Menschen mit Behinderungen wohnen oder arbeiten, sollten eigentlich besser Teil des Plans sein, um im Fall eines Ereignisses vulnerable Gruppen am Schirm zu haben.
von DI Emil Benesch