Eine Erfolgsgeschichte der Behindertenbewegung
Am 1. Juli 1993 ist österreichweit das Bundespflegegeldgesetz in Kraft getreten. Die Einführung des Pflegegeldes war eine der bedeutsamsten Errungenschaften in der österreichischen Sozialpolitik. Damals hart umkämpft wurde dessen Einführung durch den Zusammenhalt und die gemeinsame Arbeit vieler Behindertenorganisationen ermöglicht. Bis heute bleibt das Bundespflegegeldgesetz in seinem Kern bestehen.
Die Anfänge
Von der Idee bis zur Umsetzung des Pflegegeldes 1993 vergingen etwa 6 Jahre, in denen in unzähligen Sitzungen die Rahmenbedingungen für ein bundesweites Pflegegeldgesetz verhandelt wurden. Den Stein ins Rollen brachte eine Petition im Jahr 1987, eingebracht vom damaligen ÖZIV-Präsidenten Dr. Karl Marschall. 1987 wurde Prof. Dr. Klaus Voget Präsident des ÖZIV. Er übernahm eine Petition, die sein Vorgänger Dr. Karl Marschall mit 65.000 Unterschriften in den Nationalrat eingebracht hatte.
Die Kernforderungen der Petition waren:
- Fahrpreisermäßigung für Zivilbehinderte
- Angleichung an die Versorgung der Kriegsopfer
- ausreichende Versorgung der Behindertenorganisationen
In einer Expert*innengruppe, einberufen 1991 von Sozialminister Hesoun, wurde ein Konzept erstellt.
Es wurden Arbeitsgruppen erstellt, in denen Vertreter des Bundes, der Länder, der Gemeinden, des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, der Behindertenorganisationen und der im Parlament vertretenen politischen Parteien vertreten waren. Ein wichtiger Mitstreiter in der Entstehung des Bundespflegegeldgesetzes war Dr. Gerd Gruber, damaliger Leiter der Sektion IV des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz: Es gab wirklich harte Auseinandersetzungen über Jahre. Es hat eine immense Dynamik im Behindertenbereich eingesetzt und es ist eine glückliche Symbiose entstanden, die es ermöglicht hat, dass das Pflegegeld als ein gemeinsames Produkt entstanden ist, ohne Eitelkeiten. Klaus Voget war eine zentrale Person.“
Großdemonstration
Ein großer Streitpunkt war der Rechtsanspruch und dass das Pflegegeld eine Geldleistung und keine Sachleistung sein sollte. Dies führte zu einer ersten Demonstration im Oktober 1991 vor dem Finanzamt in der Himmelpfortgasse in Wien.
von links: Klaus Widl, Sektionschef Gerd Gruber und Sozialminister Josef Hesoun, 1991
Die Entwicklung des Gesetzes
Das Ziel war, einen neuen Zugang zur Pflege zu finden, bei dem der tatsächliche Pflegeaufwand bemessen wird und ein aufwandorientiertes System zu entwickeln. Somit sieht die Einstufungsverordnung Zeiten für eine Reihe von Pflegeleistungen vor. „Das war ein komplett neuer Weg“, so Gruber. „Damals wurde das im Kriegsopferrecht als
eine Knochentaxis bezeichnet, zum Beispiel: Ein Unterschenkel ist 50% wert, der Oberschenkel 80% Behinderung, und so weiter.“
Eine wichtige Entwicklung war in dieser Zeit die Entwicklung vom kausalen zum finalen Prinzip. „In der Zeit hat sich das Behindertenrecht sehr stark entwickelt aus dem Kriegsopferrecht und dem Unfallrecht zu einem allgemeinen Recht für behinderte Menschen und vom kausalen Prinzip zum finalen Prinzip. Das bedeutet, dass alle, ohne Rücksicht auf die Ursache der Schädigung gleichbehandelt werden.“
Ein großes Problem war die Finanzierung des Pflegegeldes
„Wir hatten aus dem Hilflosenzuschuss und anderen Zuschüssen damals ein Volumen von 11 Mrd. Schilling.“ Der damalige Finanzminister Ferdinand Lacina hat ein zusätzliches Budget von ca. 9 Mrd. Schilling zusätzlich für dieses Pflegegeld zur Verfügung gestellt. „Global gesagt hatten wir für das Bundespflegegeldgesetz dann ca. 20 Mrd. Schilling zur Verfügung“, so Gruber.
Der Entwurf eines Bundespflegegeldgesetzes ging am 31. Oktober 1991 in die Vorbegutachtung und am 26. Mai 1992 in die abschließende Begutachtung. Da seither aber immer noch zu wenig geschah, wurde am 27. Oktober 1992 eine weitere Großkundgebung am Ballhausplatz vor dem Bundeskanzleramt geplant. Es sollte noch bis Jänner 1993 dauern, bis das Bundespflegegeld nach Behandlung der Regierungsvorlage in einem eigenen Unterausschuss beschlossen und am 1. Juli 1993 in Kraft trat. Dass dieses Gesetz schlussendlich erfolgreich umgesetzt wurde, ist vielen Gesprächen, Verhandlungen und der Beharrlichkeit einzelner Mitstreiter*innen zu verdanken.
Einen Höhepunkt erreichte der Diskurs um das Pflegegeld am 8. Oktober 1991, als in der Sendung Zeit im Bild 2 Hesoun und Voget über das Pflegegeld diskutierten.
„An sich müsste sie [Anm.: die Regierung] zurücktreten, weil in der Regierungserklärung steht, dass die Pflegevorsorge in dieser Legislaturperiode kommen wird. Und wenn sie sich nicht dazu versteht, die Finanzierung aufzutreiben, dann muss sie zurücktreten. Nur im Endeffekt haben wir von einer zurückgetretenen Regierung auch nichts“, so Voget zu Hesoun in der Diskussion.
Bewegung der Behindertenorganisationen
Voget nutzte die Zeiten, in denen in der Entwicklung des Gesetzes Stillstand herrschte, um Behindertenvertreter*innen zu einen. Blindenorganisationen fürchteten um ihren Status, denn blinde Personen bekamen zusätzlich zum Hilflosenzuschuss das Blindengeld ausbezahlt. Die Organisationen fürchteten, dass sie durch die Einführung des Pflegegeldes weniger ausbezahlt bekommen würden. Es benötigte viel Überzeugungsarbeit und Zusagen, dass die Vereine, die nicht direkt Nutznießer waren, ihre Unterstützung zusicherten. Doch für Klaus Voget und Gerd Gruber war der Paradigmenwechsel essenziell – Menschen sollten über ihre Versorgung selbst bestimmen können. Ob eine blinde Person ein Taxi nimmt oder dem Neffen den Sprit für eine Fahrt zahlt, soll die Person selbstbestimmt entscheiden können.
Die Behindertenorganisationen konnten schlussendlich erreichen, dass das Pflegegeld in Form einer Geldleistung ausbezahlt wird und ein Rechtsanspruch darauf besteht.
„Es kam zu einem Paradigmenwechsel. Die Menschen sollen selbst entscheiden können, welche Leistungen sie von wem bekommen“, erinnert sich Prof. Dr. Klaus Voget.
Die Angst, dass die Oma ihr Pflegegeld hortet und dem Enkerl damit ein Moped kauft, sei in den Köpfen herumgespuckt, habe sich aber nicht bewahrheitet, erzählen beide.
aus dem Archiv, monat November 1992
Heutiger Stand
Bis heute ist das Bundespflegegeldgesetz ein wesentlicher Beitrag zur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. „Es war das erste Gesetz dieser Größenordnung, das auf Initiative der Betroffenen entstanden ist. Die großen Vereine sind dahintergestanden und auch Personen, die nicht direkt daraus profitiert haben, waren davon überzeugt, dass es der richtige Weg sei“, so Voget.
Verbesserungen
Probleme sieht Voget vor allem in den Begutachtungen durch Sachverständige, die oft nicht ausreichend geschult und wenig empathisch seien sowie im Wertverlust des Pflegegeldes in Höhe von ca. 30%, der aufgrund 27 Jahre fehlender Valorisierung entstanden ist. Jährlich valorisiert wird das Pflegegeld nämlich erst seit 2020.
Verbesserungspotential sehen Gruber und Voget unter anderem auch bei der Anpassung des Pflegegeldes an die Bedarfe von Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychischen Erkrankungen.
Prof. Dr. Klaus Voget
Präsident Österreichischer Behindertenrat (vormals ÖAR) 1991- 2017
Präsident ÖZIV 1987- 2019
Dr. Gerd Gruber
Leiter der Sektion IV des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz bis 2005
Josef Hesoun
1990 bis 1995 Bundesminister für Arbeit und Soziales
Ferdinand Lacina
1986 bis 1995 Bundesminister für Finanzen
Artikel von Eva-Maria Fink und Andrea Strohriegl nach Interviews mit Prof. Dr. Klaus Voget und Dr. Gerd Gruber
Service-Links
Bundespflegegeldgesetz (mit Wirkung vom 1. Juli 1993 in Kraft getreten)
oesterreich.gv.at – Pflegegeld