Schweiz: Aktive politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Drei Politiker mit Behinderungen wurden in den Schweizer Nationalrat gewählt: Christian Lohr (Die Mitte Thurgau), Philipp Kutter (Die Mitte Zürich) und Islam Alijaj (SP Zürich).
Bei den Schweizer Parlamentswahlen am 22. Oktober 2023 wurden die 200 Mandate des Nationalrats sowie 45 der 46 Mitglieder des Ständerats der Schweiz neu gewählt. Mehr als 30 Kandidat*innen mit Behinderungen traten bei den Wahlen an. Islam Alijaj wird nun erstmals in den Nationalrat einziehen. Die Kandidaten Christian Lohr und Philipp Kutter wurden erneut gewählt. Damit werden im Schweizer Parlament in der nächsten Legislatur drei Menschen mit Behinderungen vertreten sein.
Menschen mit Behinderungen sollen auf allen politischen Ebenen vertreten sein. Doch zahlreiche Barrieren halten Interessierte davon ab, sich am politischen Geschehen aktiv zu beteiligen. Dies hat enorme Folgen: Menschen mit Behinderungen sind in politischen Ämtern stark unterrepräsentiert. Kandidat*innen, die auf der Schweizer Behindertenliste erscheinen, bezeichnen sich selbst als Menschen mit Behinderungen, kandidierten offiziell und bekennen sich zur UN-Behindertenrechtskonvention. Das Ziel der Behindertenliste ist, dass sich viele Menschen mit Behinderungen offen und gemeinsam für eine bessere politische Repräsentation einsetzen. Durch das Netzwerk für Politiker*innen mit Behinderungen möchte Pro Infirmis diese Bewegung langfristig unterstützen und unterstützt auch die Parteien dabei, inklusiver zu werden. Die Behindertenliste soll Wähler*innen unterstützen, nach deren eigenen politischen Vorlieben Menschen mit Behinderungen zu wählen. Die Liste für die Schweizer Parlamentswahlen 2023 deckt mit mehr als 30 Personen beinahe das gesamte politische Spektrum ab.
Die Kandidat*innen der Parteien
Die Mitte stellte vier Kandidat*innen, darunter die beiden einzigen bisherigen Nationalräte: Christian Lohr im Thurgau und Philipp Kutter in Zürich. Lohr bringt bereits 12 Jahre Erfahrung als Politiker mit Behinderungen im Nationalrat mit und läutete im Frühjahr 2023 als Präsident der „Behindertensession“ das Wahljahr ein. Kutter kandidiert auch für den Ständerat und könnte dort der erste Vertreter mit Behinderungen werden. Insgesamt ist die „Mitte“ mit fünf Kandidaturen auf der Liste vertreten.
Die SP stellte mit 11 Personen gemeinsam mit der JUSO die meisten Kandidat*innen auf der Behindertenliste und vereinigte dabei junge sowie erfahrene Politiker*innen. Mit Islam Alijaj und Simone Feuerstein in Zürich, Nicole Tille in Freiburg, Tatjana Binggeli im Aargau und Cyril Mizrahi in Genf kandidierten fünf Politiker*innen auf SP-Hauptlisten.
Die EVP stellte zwei Kandidat*innen auf Hauptlisten: Simone Leuenberger und Serge Herren. Leuenberger schaffte bei den letzten Wahlen in Bern den Sprung ins kantonale Parlament.
Die FDP stellte mit Marc F. Suter im Jahr 1991 den ersten Nationalrat, der einen Rollstuhl nutzt. Bei der Wahl 2023 trat Ferdinand Pulver, Gemeinderat in Reinach BL, für die FDP an. Insgesamt vertaeten drei Freisinnige Kandidat*innen in der Deutschschweiz die Liberalen auf der Behindertenliste.
Die Grünliberalen kommunizierten parteiintern früh zur Behindertenliste, worauf zusätzlich zu Marianne Plüss (Bern), die bereits bei der Lancierung der Liste dabei war, weitere vier Kandidat*innen auf Unterlisten bzw. bei der Jungpartei hinzukamen.
Neben Tobias Fankhauser, der schon im März 2023 an der Behindertensession teilgenommen hatte, standen zwei weitere Kandidat*innen auf der Liste „Gesundheit und Soziales“ der Grünen im Kanton Baselland.
Islam Alijaj
Islam Alijaj, der für die SP in den Nationalrat ziehen wird, erklärte anlässlich seiner Wahl: „“Mit meiner Wahl geht ein Traum in Erfüllung – nicht nur für mich, sondern für die Demokratie, für alle Menschen mit einer ähnlichen Geschichte und für eine inklusive Schweiz.“ Auf seiner Website schreibt Alijaj: „Vieles an mir steht einer Karriere in der Politik eigentlich im Wege: Mein Migrationshintergrund, meine Körperbehinderung, meine Sprechbehinderung oder auch mein Vorname. Doch vor einem Jahr haben viele Zürcher*innen das Unmögliche möglich gemacht und mich in den Gemeinderat gewählt. Nun möchte ich in der ganzen Schweiz etwas bewegen. Denn meine Kinder sollen nicht in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, in der ihr eigener Vater als minderwertig angesehen wird. Um das zu erreichen, will ich unser heutiges System revolutionieren. Ein System, das Menschen mit Behinderungen lieber in Einrichtungen steckt, anstatt uns ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.“
Christian Lohr
Christian Lohr erklärte nach der Wahl: „Ich danke der Stimmbevölkerung für das Vertrauen und freue mich, mich weitere vier Jahre im Nationalrat einsetzen zu können. Die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen wird dabei weiterhin ein wichtiges Anliegen sein und ich möchte meine Funktion auch nutzen, um die politische Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz weiter zu stärken.“
Philipp Kutter
Philipp Kutter meinte anlässlich seiner Wiederwahl: „Mein Ergebnis und das Vertrauen der Bevölkerung freuen mich sehr – gerade, weil ich durch meinen Aufenthalt in Nottwil in diesem Wahlkampf nicht überall persönlich präsent sein konnte. Ich werde die kommende Amtszeit im Nationalrat nutzen, um verstärkt auch eine Stimme für Menschen mit Beeinträchtigung zu sein.“