Die Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich wurde von Wissenschaftler*innen unter die Lupe genommen. Nun liegt ein 328-seitiger Abschlussbericht vor.
Ein aus Expert*innen des Netzwerks Österreichischer Inklusionsforscher*innen aus unterschiedlichen Hochschulen und Universitäten aller Bundesländer Österreichs zusammengesetztes Forschungskonsortium wurde im Juni 2022 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) mit der Durchführung einer Studie beauftragt. Ziel der Untersuchung war, den Prozess der Vergabe von sonderpädagogischem Förderbedarf in Österreich zu erheben.
Ausgewählte Ergebnisse
- Die Strukturen und Praktiken jedes Bundeslandes wurden differenziert analysiert, da die Umsetzung des Prozesses in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. So gibt es Bundesländer, in denen sehr vielen Schüler*innen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird, während die Quote in anderen Bundesländern äußerst gering ist. Mit Blick auf die Geschlechterverteilung der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zeigt sich, dass österreichweit mit 63,7 % deutlich mehr Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben als Schülerinnen (36,3 %). Etwas ausgeglichener ist das Geschlechterverhältnis im Burgenland und in Kärnten mit einem Mädchenanteil von 41 % oder knapp darüber.
- Die Unterschiede nach der Erstsprache fallen noch etwas stärker aus: Österreichweit haben 43,5 % der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine andere Erstsprache als Deutsch. Allerdings sind diese Ergebnisse vor dem Hintergrund zu interpretieren, dass sich die Anteile der Schüler*innen an Pflichtschulen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch zwischen den Bundesländern unterscheiden. Demnach sind Schülerinnen mit nicht-deutscher Erstsprache besonders in Salzburg überrepräsentiert.
- Im Großen und Ganzen erfolgt die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs früh in der Schullaufbahn: Mehr als jedes zweite Kind hat bis zu seinem dritten Schulbesuchsjahr einen SPF-Bescheid erhalten, 70 % bis zum vierten und 90 % bis zum sechsten Schulbesuchsjahr.
- Aus den verfügbaren Daten lässt sich schließen, dass 4,5 % aller Pflichtschüler*innen über einen sonderpädagogischen Förderbedarf verfügen. Wollte man anstelle der von den Bildungsdirektionen erhobenen Daten jene Zahlen heranziehen, die vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie von Statistik Austria veröffentlich werden, würde der Anteil bei 5,1 % liegen.
Beide Datenbasen verdeutlichen, dass die Vorgabe einer Deckelung von Dienstposten bei 2,7 % der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und der Status quo der Betroffenheit bzw. des Bedarfs an Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung weit auseinander liegen. - Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gilt es, schulische Integration zu unterstützen. Rund zwei Drittel der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden nach Angaben der Bildungsdirektionen österreichweit in Integrationsklassen unterrichtet.
Die Daten der Erhebung belegen, dass schulische Integration in Kärnten oder der Steiermark als vorwiegend umgesetzte Praxis bezeichnet werden kann, während in Niederösterreich oder Vorarlberg nur etwas mehr als die Hälfte der Schüler*innen in Integrationsklassen unterrichtet werden. Integration gelingt in Volksschulen besser als auf der unteren Sekundarstufe, dort allerdings in Mittelschulen und Polytechnischen Schulen weitaus besser als in Gymnasien. Schließlich haben Schülerinnen mit festgestellter kognitiver Beeinträchtigung die bei Weitem geringsten Chancen auf integrativen Unterricht. Darüber hinaus ist für Burschen und Schüler*innen mit deutscher Erstssprache die Chance auf schulische Integration etwas niedriger als für Mädchen und Personen mit einer anderen Erstssprache.
Methode
- Die Teilstudie 1 geht auf der Grundlage von Daten aus den Bildungsdirektionen der Frage nach, wie sich diese Schüler*innenschaft im Hinblick auf soziodemographische Merkmale (einschließlich Behinderungsformen), Lehrplanzuweisungen und Schulverläufe nach den einzelnen Bundesländern unterscheidet. Auf dieser Grundlage lassen sich Ursachen von Verteilungsunterschieden erfassen.
- Die Teilstudie 2 arbeitet mit den Ergebnisse einer repräsentativen Fragebogenerhebung, in der Lehrpersonen, Eltern, Schulleitungen und Diversitätsmanager*innen ihre Einschätzungen zu den Verfahrensabläufen und Rahmenbedingungen des SPF-Feststellungsverfahrens abgaben.
- In der Teilstudie 3 werden diese Ergebnisse durch eine Analyse der Gutachten und Bescheide vertieft. Mittels einer umfassenden Inhaltsanalyse einer Zufallsstichprobe von Erstbescheiden und Gutachten aus allen neun Bundesländern werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Qualitätsmerkmale der SPF-Vergabepraxis herausgearbeitet.
- Für die Teilstudie 4 wurden Expert*inneninterviews mit Mitarbeiter*innen des Präsidialbereichs, Diversitätsmanager*innen, pädagogischen Berater*innen, Schulpsycholog*innen, Lehrpersonen, Schulleitungen, Eltern, Erziehungsberechtigten und Schulqualitätsmanager*innen geführt.
Vorgaben für die SPF-Vergabe
Schüler*iinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf können Sonderschulen, Sonderschulklassen oder Regelschulen besuchen. Der Anteil an Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in Regelschulen unterrichtet werden, die sogenannte Integrationsquote, hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert und unterscheidet sich in den Bundesländern.
Seitens der Bildungsdirektionen existieren unterschiedliche Vorgaben für den Prozess der Begutachtung und Diagnostik im Rahmen eines SPF-Verfahrens. Die neun Bildungsdirektionen stellen auf ihren Websites die notwendigen Formulare für den Antrag auf SPF zum Download zur Verfügung. Beispielhaft wird dieser Prozess im Folgenden anhand des Vorgehens in der Steiermark beschrieben.
In der Steiermark wird nach den Vorgaben des Rundschreibens Nr. 7/2019 die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Regelfall von den Erziehungsberechtigten bei der Bildungsdirektion Steiermark beantragt. In Ausnahmefällen kann die Feststellung auch von Amts wegen gestellt werden, d. h. aufgrund eines Antrags der jeweiligen Schulleitung. In beiden Fällen wird auf Transparenz und Kooperation hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie verwiesen.
Bevor der Antrag gestellt wird, müssen die Eltern/Erziehungsberechtigten ein verpflichtendes Beratungsgespräch mit einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin des Diversitätsmanagements und ein freiwilliges Beratungsgespräch mit der Schulpsychologie oder dem schulärztlichen Dienst absolviert haben. Der Antrag beinhaltet die demographischen Daten der antragstellenden Person und des Kindes. Es werden medizinische oder psychologische Befunde beigelegt sowie Informationen über Frühfördermaßnahmen oder Therapien, die das Kind erhalten hat. Weiters ist ein pädagogischer Bericht der involvierten Lehrpersonen verbindlich anzufertigen. Dazu wird ein Formular genutzt, das von der Bildungsdirektion zur Verfügung gestellt wird (für die Grundstufe bzw. für die Sekundarstufe). Dieser pädagogische Bericht enthält eine Beschreibung des Schülers oder der Schülerin, die bisher getroffenen schulische Maßnahmen, zum Beispiel Fördermaßnahmen im Bereich Sprache oder verhaltenspädagogische Maßnahmen, eine Beschreibung der Klassensituation, eine Darstellung der Kompetenzen des Kindes sowie einen Vorschlag zur Lehrplaneinstufung mit Begründung (Allgemeine Sonderschule, Sinnes-/Körperbehinderung, erhöhter Förderbedarf).
Die Bildungsdirektion Steiermark prüft den Antrag und entscheidet, ob aus den Unterlagen eine Behinderung gemäß Schulpflichtgesetz, die eine Teilhabe am Unterricht erschwert, deutlich wird. Diese Beurteilung erfolgt durch die Schulpsychologie bzw. den schulärztlichen Dienst oder nach Absprache zwischen den zuständigen Personen der Abteilung Präs/6 und des Referates Schulrecht und sonstige Rechtsleistungen . Liegen hier Unstimmigkeiten vor, werden weitere schulpsychologische oder ärztliche Gutachten eingeholt. Für eine zusätzliche Untersuchung ist das Einverständnis der Erziehungsberechtigten erforderlich. Bei Feststellung einer Behinderung durch die Abteilung Präs/6 sowie Präs/2b im Sinne des Schulpflichtgesetzes, wird der Akt an den Diversitätsmanager oder die Diversitätsmanagerin zur Erstellung eines sonderpädagogischen Gutachtens weitergeleitet. Diese stellen fest, ob das Kind aufgrund dieser Behinderung dem Unterricht nicht zu folgen vermag und legen auch eine Lehrplaneinstufung fest.
Die Eltern/Erziehungsberechtigten erhalten dann eine Information zu diesem Entscheid inklusive der erstellten Gutachten und werden über ihr Recht in Bezug auf das ihnen zustehende Parteiengehör auf-geklärt. Die Eltern/Erziehungsberechtigten haben die Möglichkeit, ein Beratungsgespräch in Anspruch zu nehmen. Sie müssen dies jedoch verlangen. Sie haben zudem das Recht, bei Bedarf einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin zu dem Gespräch hinzuzuziehen. Die Eltern/Erziehungsberechtigten haben die Möglichkeit, gegen diese Entscheidung Stellung zu nehmen.
Abschließend wird der Bescheid, der nicht mehr als fünf Seiten umfassen sollte, den Eltern/Erziehungs-berechtigten zugesandt (Bildungsdirektion Steiermark). Nachdem der SPF festgestellt wurde, sind die Lehrpersonen angehalten, eine bestmögliche Förderung zu planen und zu organisieren. Die im Bescheid festgelegten Lehrpläne werden als Grundlage herangezogen.
Ergebnisse der Evaluierung der SPF-Vergabepraxis in Österreich
Unterschiede in der Verteilung des sonderpädagogischen Förderbedarfs nach Bundesländern, Geschlecht, Erstsprache und Behinderungsform
Vor dem Hintergrund von mitunter jahrelang bekannten Unstimmigkeiten zwischen den Datenbeständen des Bundes und der Bildungsdirektionen und des Interesses an exakteren Informationen als über die Schulstatistik verfügbar, wurde im Rahmen der Studie eine Primärerhebung zu Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf konzipiert und von den neun Bildungsdirektionen umgesetzt.
Diese Erhebung dokumentiert nach Datenbereinigungen, bezogen auf den Stichtag 1.10.2022 etwa 26.000 Schüler*innen an Pflichtschulen mit einem sonderpädagogischem Förderbedarf. Sie gibt Einblick in eine Reihe relevanter Themen und wirft gleichzeitig Fragen auf: Im Vergleich zu den aktuellsten verfügbaren amtlichen Daten, die sich allerdings auf das Schuljahr 2021/22 beziehen, enthält die Erhebung des sonderpädagogischen Förderbedarfs österreichweit um 12,6 % weniger Schüler*innen. Dieser Differenzanteil schwankt zwischen den Bundesländern, und die größte Differenz ergibt sich bei Schüler*innen, die eine Sonderschule besuchen. Trotzdem kann die Datenbasis als ein ebenso valides Abbild tatsächlicher Verhältnisse betrachtet werden wie die Daten der Schulstatistik, und sie erlaubt im Vergleich dazu wesentliche tiefergehende Analysen, etwa nach Art der Behinderungen.
In der Erhebung konnten mehrere Behinderungsarten ausgewählt werden. Im Durchschnitt wurden pro Schüler*in 1,4 Behinderungen dokumentiert. Am häufigsten liegen demnach Lern- und Leistungsbehinderungen vor (67,8 %), gefolgt von kognitiven Behinderungen, die auf ein gutes Viertel der Schüler*innen zutreffen (26,1 %). Für mehr als zehn Prozent der Schüler*innen wurde eine Verhaltensauffälligkeit dokumentiert (12,8 %), die jedoch beispielsweise in Wien nicht zu einem sonderpädagogischen Förderbedarf führt. Große Unterschiede zwischen den Bundesländern, was die Anzahl von Beeinträchtigungen pro Kind und die Beeinträchtigungsarten betrifft, zeigen eine länderspezifische Praxis in der Feststellung von Beeinträchtigungen in Zusammenhang mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf.1
Diese unterschiedliche Praxis setzt sich hinsichtlich der Frage fort, ob die Schüler*innen nach einem Sonderschullehrplan und (auch) nach dem Lehrplan der Volksschule, Mittelschule oder Polytechnischen Schule unterrichtet werden. Bundesweit werden 95,1 % der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zumindest in einem Fach nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet. Die Bandbreite reicht von Salzburg mit knapp 87 % bis zu Vorarlberg, wo ein solcher Lehrplan als obligat gilt. Auch zeigen sich deutliche Unterschiede zur amtlichen Statistik, nach der nur für knapp 50 % der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Sonderschullehrplan ausgewiesen ist. Diese Ergebnisse setzen das bekannte Bild der länderspezifischen Praktiken fort, wonach etwa die SPF-Quote zwischen den Bundesländern erheblich schwankt.
Ein sonderpädagogischer Förderbedarf wird in der Regel früh im Schulverlauf beschieden: 40 % erhalten ihn im ersten oder zweiten Schulbesuchsjahr. Die Aufhebung eines SPF-Bescheids wird nur bei 1,4 % aller Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorgenommen und stellt somit eine absolute Ausnahme dar. Die deutliche Mehrheit (76,9 %) der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf verzeichnen einen Laufbahnverlust aufgrund von Klassenwiederholungen. Wann im Schulverlauf eine Klassenwiederholung stattfand – also vor oder nach dem SPF-Bescheid – kann anhand der Daten nicht berechnet werden.
Eine Differenzierung nach sozio-demographischen Merkmalen zeigt die ebenfalls bekannten überproportionalen Zuteilungen bei Burschen und Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch. Was die Wahrscheinlichkeit betrifft, in einer Integrations- und nicht in einer Sonderschulklasse unterrichtet zu werden, ist die Chance von Mädchen (+3,1 %), Schüler*innen, die in ihrem Alltag nicht Deutsch sprechen (+5,4 %), und Schüler*innen in Kärnten (+3,9 %) höher, wie eine multivariate Analyse zeigt.
Größere Chancen haben auch Schüler*innen, die eine Volksschule besuchen (+25,6 %), sowie jene mit einer Lern-/Leistungsbeeinträchtigung (+23,3 %). Umgekehrt ist die Chance auf Integration in Niederösterreich (-16,8 %) niedriger, vor allem aber dann, wenn eine kognitive Beeinträchtigung festgestellt wurde: Dann sinkt sie um 29,6 %.
Diese im entsprechenden Regressionsmodell berücksichtigten Variablen erklären 33,5 % und damit einen im sozialwissenschaftlichen Kontext hohen Anteil der Varianz bezüglich integrativen Unterrichts.
Analyse der Gutachten und Bescheide
Die Gutachtenanalyse zeigt signifikante Unterschiede zwischen den Bundesländern im Hinblick auf das Geschlecht (z.B. 21,0 % Mädchen in Niederösterreich; 44,6 % Mädchen im Burgenland; Gesamtösterreich 37,4 %), die durchschnittliche Bearbeitungsdauer (1,46 Monate in Oberösterreich; 4,5 Monate in der Steiermark; Gesamtösterreich 3,23 Monate), die Altersverteilung bei den Erstbescheiden (im Durchschnitt 8,77 Jahre in Wien; 10,12 Jahre in Salzburg; Gesamtösterreich 9,46 Jahre), die festgestellten Behinderungsformen, die zur Begründung des sonderpädagogischen Förderbedarfs herangezogenen Diagnosen und Diagnoseverfahren sowie die Art und Anzahl der empfohlenen Lehrpläne und Schulformen.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass zwar das SPF-Begutachtungsverfahren durch den Erlass des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung geregelt wurde, jedoch für die Gutachten selbst keine einheitlichen Qualitätskriterien vorliegen.
Bei den verschiedenen Behinderungsformen, deren Feststellung eine Grundvoraussetzung für den SPF-Bescheid ist, fallen teilweise extreme Unterschiede zwischen den Bundesländern auf: So stellen in Vorarlberg über zwei Drittel der SPF-Bescheide (68,6 %) eine kognitive Behinderung fest, während dies in Niederösterreich nur bei 12,0 % der Fall ist; dort wiederum wird in knapp drei Viertel der Fälle (74,0 %) eine Lernbehinderung attestiert und in Vorarlberg bei nur 22,9 %.
Diese Diskrepanzen hängen gewiss nicht allein mit dem höheren oder niedrigeren Vorkommen dieser Behinderungsformen in den jeweiligen Bevölkerungen der einzelnen Bundesländer zusammen, sondern haben vermutlich hoch komplexe Ursachen (Antragsanlässe, unterschiedliche diagnostische Vorgehensweisen und Begutachtungs-verfahren, institutionelle und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen bzw. Anforderungen der einzelnen Bildungsregionen und Schulstandorte).
In einigen Bundesländern werden die gesetzlichen Kriterien für die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs sehr weit ausgelegt, z.B. bei sogenannten „Lernbehinderungen“ oder „Verhaltensbehinderungen“ oder sogar nach ländereigenen Richtlinien überschritten, indem der sonderpädagogische Förderbedarf auch ohne Vorliegen einer Behinderung angeordnet wird, z.B. bei einer „sonstigen Einschränkung“ (Bildungsdirektion Wien). Insgesamt dominieren in den Gutachten und Bescheiden medizinische und (schul)psychologische Sichtweisen und Verfahren, während pädagogische Ansätze von eher sekundärer Bedeutung für die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs sind.
Lehrplanzuordnung
Nach der Datenanalyse aus Teilstudie 1 wird der überwiegende Teil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (95.1 %) in zumindest einem Fach nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet. Am häufigsten wird der Lehrplan der allgemeinen Sonderschule angewandt (österreichweit ca. 61 %). Etwa 23,2 % der Schüler*innen werden nach dem Lehrplan für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf unterrichtet, 4.5 % der Schüler*innen nach dem Lehrplan für erziehungsschwierige Kinder, 2,4 % nach dem Lehrplan des Berufsvorbereitungsjahrs. Der Lehrplan der Sonderschule für blinde Kinder wird insgesamt nur selten angewandt.
Die Praxis der Lehrplanzuordnung ist in den Bundesländern unterschiedlich und reicht von Vorarlberg, wo alle Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet werden, bis zu Salzburg, wo dies lediglich auf 86,8 % der Schüler*innen zutrifft. Auch in Tirol und in der Steiermark wird in praktisch jedem Fall ein Sonderschullehrplan mit Bescheid zugewiesen, während in Oberösterreich, Burgenland und Wien Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in manchen Fällen nicht nach einem Sonderschullehrplan, sondern ausschließlich nach dem Regelschullehrplan unterrichtet werden.
Ein Lehrplan für erziehungsschwierige Schüler*innen wird nur in Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg zugeordnet und nur in rund der Hälfte der Bundesländer werden Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach dem Lehrplan für gehörlose bzw. blinde Kinder unterrichtet. In manchen Bundesländern erhalten Kinder mit Sinnesbehinderung zwar einen „Förderbedarf“, aber keinen sonderpädagogischen Förderbedarf.
Einschätzung des Verfahrens durch die Beteiligten
Aus den Ergebnissen der Befragungsstudie geht hervor, dass nach Angaben der Eltern die Initiative für die Beantragung in den meisten Fällen von der Lehrperson oder der Schulleitung (70 %) ausging. Lediglich in 14 % sind die Eltern der Meinung, die Initiative wäre von ihnen ausgegangen. In ähnlicher Weise berichten die Lehrpersonen, sie selbst oder die Schulleitung (65,6 %) hätten die Initiative gesetzt, in knapp 24 % wäre diese von den Eltern ausgegangen.
Von den ersten Schritten, die in die Wege geleitet werden um die Frage zu klären, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf nötig wäre, unterscheidet sich die konkrete Antragstellung, bei der dann ein sonderpädagogischer Förderbedarf für ein Kind beantragt wird. Der konkrete Vorschlag für den Antrag wird nach deren Angaben meist von Lehrpersonen, Schulleitung und Diversitätsmanagement eingebracht.
Nur die Gruppe der Diversitätsmanager*innen berichtet, dass in den meisten Fällen die Antragstellung von den Eltern ausging (42,2 %). Der Grund für diese unterschiedlichen Wahrnehmungen und Angaben der Lehrpersonen, Schulleitungen, Diversitätsmanager*innen und Eltern/Erziehungsberechtigten liegt wohl darin, dass die Diversitätsmanager*innen die von den Eltern unterschriebenen Anträge einsammeln und weiterleiten. Wenn die Eltern formal diesen Antrag stellen, muss die Bildungsdirektion die Beantragung und den Bescheid den Eltern gegenüber nicht mehr begründen.
Nur zwei Drittel (66 %) der Eltern geben an, ausreichend Informationen zum SPF-Verfahren erhalten zu haben; 42 % wurden eher wenig einbezogen, 6 % gar nicht und mehr als zwei Drittel der Eltern gaben ebenfalls an, keine Wahl zwischen unterschiedlichen Schularten gehabt zu haben.
Dennoch ist die Zufriedenheit mit dem Prozess und dem Ergebnis bei den Eltern relativ hoch. Nur 8,8 % äußern sich wenig bis gar nicht zufrieden mit dem Prozess der Antragstellung und der Gutachtenerstellung, etwa 4 % der Eltern sind unzufrieden mit den getroffenen Fördermaßnahmen und nur 2,3 % mit der Entscheidung über die Schule, die im Bescheid festgelegt wurde. Auch sind die meisten Eltern zuversichtlich in Bezug auf die zukünftige Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes, im Gegensatz zu manchen Lehrpersonen (wenig bis überhaupt nicht zuversichtlich in der Leistungsentwicklung: 12,7 % und in der Persönlichkeitsentwicklung: 11,3 %), die sich weniger zuversichtlich äußern.
Es wurden aber auch von allen Personengruppen Schwierigkeiten und Herausforderungen im SPF-Verfahren genannt: Die lange Dauer, Wartezeit und der Umfang des Verfahrens, Kommunikationsprobleme, Ablaufprobleme bzw. -unklarheiten, Zeit-/Personalmangel und/oder die hohe Arbeitsbelastung (insbesondere bei den Diversitätsmanager*innen).
Ressourcen
Die vorläufigen Befunde, die aus der Auswertung der qualitativen Interviews mit Akteur*innen aus den Bildungsdirektionen abgeleitet werden können, verweisen auf die Bedeutsamkeit des Themas Ressourcen. Die Befragten kritisieren fast durchgehend die Deckelung der Ressourcen durch das Ministerium bei 2,7 %. Wie berichtet wird, nötigt die genannte Begrenzung die Bildungsdirektionen dazu – unter anderem – Ressourcen aus dem Regelschulsystem abzuzweigen. Laut den meisten Interviewpersonen sehen sich die Länder nicht in der Lage, die fehlenden Ressourcen beizusteuern, was zu geringeren Lehrpersonenstunden und einem Mangel an personellen Unterstützungsleistungen führe. Diese Tendenz hat sich laut einigen Interviewteilnehmer*innen in den letzten Jahren verstärkt. Gleichzeitig – und mit den vorherigen Befunden in Verbindung stehend – erweist sich die Frage der Ressourcenverteilung innerhalb der Bundesländer als relevant.
Insbesondere bleibt auf Basis der bisherigen Auswertung der genaue Verteilungsmodus unklar. Zwar wird davon gesprochen, es gäbe innerhalb der Bildungsdirektionen erstellte Ressourcenschlüssel, wie diese genau gestaltet sind, lässt sich aus den Aussagen der Akteur*innen jedoch nicht präzise rekonstruieren. So bleibt festzuhalten, dass der Prozess der Verteilung in den Ländern eher intransparent verbleibt – zumindest kann diese Schlussfolgerung aus den erhobenen Daten gezogen werden.
Zudem scheint die Ressourcenvergabe mitunter auch von problematischen Dynamiken begleitet zu werden, etwa wenn die Sorge thematisiert wird, dass lediglich jene Schulleitungen die benötigten Ressourcen erhalten würden, die sich am besten Gehör verschaffen könnten. Bezüglich der Nutzung der Ressourcen stellte sich im Zuge des Auswertungsprozesses die Frage, wieweit die Verwendung der Mittel zu einer Stabilisierung des dualen Systems aus Inklusion und Sonderschulen beiträgt, oder die Ressourcen für eine forcierte Umsetzung inklusiver Bildung genutzt werden.
Von einigen befragten Personen wird das der Ressourcensteuerung zugrunde liegende Schema ‚Ressourcen für SPF‘ hinterfragt und kritisiert und es werden Veränderungen in Richtung einer stärker inklusionsfördernden Ressourcensteuerung (z.B. indexbezogene Ressourcensteuerung) angeregt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die mögliche diskriminierende Komponente hinzuweisen, die sich aus einer kausal an einem vordergründig medizinisch orientierten Diagnosemodell abgeleiteten Behinderungszuschreibung ergeben kann. Das Verständnis von Behinderung bleibt derzeit an einem medizinischen Modell orientiert bzw. darin verhaftet. Die Ableitung von pädagogischen Bedarfen orientiert sich demnach an Kriterien, die wenig Spielraum für inklusionsorientierte Ansätze bieten.
1 Da in der Erhebung bei den Bildungsdirektionen dezidiert nach „Beeinträchtigungen“ gefragt wurde, wird dieser Begriff in diesem Teil der Studie beibehalten, während in den anderen Teilen „Behinderungen“ verwendet wird.
Quelle: Barbara Gasteiger-Klicpera, Tobias Buchner, Erik Frank, Rainer Grubich, Verena Hawelka, Petra Hecht, Mirjam Hoffmann, Thomas Hoffmann, Andrea Holzinger, Christa Hölzl, Sabrina Kahr, Maria Kreilinger, Timo Lüke, Michelle Proyer, Kristina Raich, Katharine Rümmele, Stefan Schuster, Mario Steiner, Wilfried Prammer, Gabriele Pessl, Claudia Rauch, Sabrina Schrammel, Josefine Wagner und David Wohlhart: Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich. Abschlussbericht, September 2023
Service-Links
Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich (PDF, 4 MB)
Studienzusamenfassung: Kerstin Huber-Eibl