Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrats zum Entwurf einer Verordnung über das Verhalten in der Schule und Maßnahmen für einen geordneten und sicheren Schulbetrieb – Schulordnung 2024
Der Österreichische Behindertenrat ist die Interessenvertretung der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen in Österreich. In ihm sind über 80 Mitgliedsorganisationen organisiert. Auf Grund der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen verfügt der Österreichische Behindertenrat über eine einzigartige Expertise zu allen Fragen, welche Menschen mit Behinderungen betreffen.
Der Österreichische Behindertenrat dankt dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung für die Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme und erlaubt sich diese wie folgt auszuführen:
Allgemeines
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt, dass das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung nun nähere, sich aus der Änderung des Schulunterrichtsgesetzes ergebenden, Vorschriften zu v.a. Maßnahmen des Kinderschutzes in der Schule beschließt.1
An dem vorliegenden Entwurf ist die Anwendung eines breiten Gewaltbegriffes, die Einsetzung eines Kinderschutzteams und die Durchführung einer Risikoanalyse als Teil des Kinderschutzkonzepts, sowie dessen vorgesehene Evaluierung positiv zu bewerten.
Da Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ein deutlich höheres Risiko haben, Gewalt zu erleben als Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen – dies gilt insbesondere für Mädchen mit Behinderungen sowie für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten2 – sind diese in den vorgesehenen Maßnahmen zum Kinderschutz besonders zu berücksichtigen.
Zu den einzelnen Regelungen
Zu § 2
Hier führt der Entwurf jene Personen auf, die berichtigt sind, sich in der Schule aufzuhalten. Damit Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ihr Recht auf chancengleichen Zugang zum Bildungssystem wahrnehmen können bedarf es im Einzelfall Unterstützungsmaßnahmen, wie etwa Assistenz und ÖGS-Dolmetschleistungen.
Zu der Sicherstellung derartiger Maßnahmen hat sich Österreich gemäß Art. 24 Abs. 2 d, e und f UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet. Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat in den Erläuterungen klarzustellen, dass jedenfalls Assistenzpersonal für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im Sinne von Art. 24 Abs. 2 d, e und f UN-BRK in den Personenkreis, der sich in der Schule aufhalten darf, aufzunehmen.
Zu § 4 Abs. 2 und 3
Damit ein Kinderschutzkonzept effektiv dazu beitragen kann, Kinder und Jugendliche vor Gewalt in der Schule zu schützen, muss ein solches Konzept in einem Prozess uneingeschränkter und wirksamer Partizipation relevanter Akteur*innen entwickelt werden. Hierzu gehören u.a. insbesondere Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen, ihre Organisationen sowie Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis. Bei der Entwicklung müssen wissenschaftliche Standards zum Kinderschutz berücksichtigt werden.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat in § 4 Abs. 2 die Wortfolge „in einem partnerschaftlichen Prozess“ durch „in einem partizipativen Prozess unter Einbezug von Expert*innen relevanter Fachrichtungen“ zu ersetzen. Analog hierzu ist folglich auch in § 4 Abs. 3 die Wortfolge „Eine solche Behandlung ist für den partnerschaftlichen Prozess nicht ausreichend, sondern ist jedenfalls einem weiteren Kreis an Erziehungsberechtigten und Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben.“ durch „Für eine solche Behandlung im Sinne eines partizipativen Prozesses ist jedenfalls ein weiterer Kreis an Erziehungsberechtigten, Schüler*innen sowie Expert*innen relevanter Fachrichtungen aktiv und wirksam miteinzubeziehen“ zu ersetzen. Der Österreichische Behindertenrat fordert außerdem, anstatt eines eigenen Kinderschutzkonzepts für jede Schule (wie in § 4 Abs. 2 vorgesehen) einen bundesweiten Mindeststandard-Entwurf für ein Kinderschutzkonzept für alle Schulen zu erarbeiten. Es sollte jeder Schule offenstehen, über solche Mindeststandards hinausgehende Regelungen zu beschließen, und dabei ggf. schulspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen.
Zudem ist ein solcher Entwicklungsprozess unbedingt mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen – z.B. für etwaige Assistenzleistungen – auszustatten, damit Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen und Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen im Besonderen uneingeschränkt und wirksam partizipieren können. Auch ist sicherzustellen, dass der Entwicklungsprozess in barrierefreien Formaten stattfindet.
Zu § 4 Abs. 4 Z. 2
Absatz 4 des vorliegenden Entwurfs nennt jene Aspekte, die jedenfalls der Risikoanalyse – als Teil des Kinderschutzkonzepts – zugrunde zu legen sind. In diesem Zusammenhang nennt Ziffer 2 „Wege von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel zur Schule“. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, da effektiver und ganzheitlicher Kinderschutz im Kontext Schule nicht erst im Schulgebäude beginnen kann.
Die Ebene des zur Schule Kommens muss jedoch auch für jene Kinder Berücksichtigung finden, die auf dem Schulweg nicht die öffentlichen Verkehrsmittel, sondern z.B. Fahrtendienste nutzen. Dies trifft v.a. auf Kinder mit Behinderungen zu. Deshalb fordert der Österreichischen Behindertenrat, in den Erläuterungen klarzustellen, dass auch der mit dem Fahrtendienst zurückgelegte Weg zur Schule Eingang in die Risikoanalyse findet.
Zu § 4 Abs. 5
Ein Kinderschutzteam ist für die Erstellung und effektive Umsetzung eines Kinderschutzkonzepts unabdingbar. Neben der Regelung, dass die Schulleitung nicht Teil des Kinderschutzteams ist, bedarf es jedoch noch konkreterer Angaben zu dessen personeller Ausgestaltung. Die Zusammensetzung des Kindeschutzteams sollte neben fachlicher Expertise3 auch unter Berücksichtigung von Multiprofessionalität und Diversität stattfinden. Nur so kann ein Kinderschutzteam seinen in den Erläuterungen näher ausgeführten Aufgaben, insbesondere der Bewusstseinsbildung für den Kinderschutz, der Mitwirkung bei der Erstellung des Kinderschutzkonzepts in einem partizipativen Prozess (siehe Ausführungen zu § 4 Abs. 2 und 3 oben) sowie der vertraulichen Begleitungs- und Unterstützungstätigkeiten gerecht werden.
Deshalb empfiehlt der Österreichische Behindertenrat, § 4 Abs. 5 um folgenden fett gedruckten Zusatz zu ergänzen:
„(5) Ein wenn möglich geschlechterparitätisch besetztes Kinderschutzteam hat aus zumindest zwei, von der Schulleitung verschiedenen, Personen, die in einem unbefristeten Dienstverhältnis an der Schule tätig sind, zu bestehen. Diese sind unter Berücksichtigung fachlicher Expertise, Multiprofessionalität und Diversität auszuwählen. Die Mitglieder des Kinderschutzteams sind für fünf Jahre zu bestellen. Eine unmittelbar anschließende Wiederbestellung ist nicht zulässig.“ Von Gewalt indirekt oder direkt Betroffene wenden sich mit dieser Erfahrung im Kontext einer Meldung selbiger eher an Personen, in denen man sich wiedererkennt bzw. mit denen Identifikationspotenzial besteht. In diesem Sinne sollte das Kinderschutzteam möglichst die Vielfalt der Schüler*innen widerspiegeln, wobei auch unterrepräsentierte Gruppen – wie z.B. Menschen mit Behinderungen – zu berücksichtigen sind.
Zu § 4 Abs. 6
An dieser Stelle führt der Entwurf aus, dass der Kinderschutz von Schulen unter bestimmten Umständen schulstandortübergreifend zusammengefasst werden soll. Dies mag unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenverteilung an den Schulen gerechtfertigt erscheinen, jedoch muss für einen effektiven Kinderschutz die bedarfsgerechte Erreichbarkeit bzw. Ansprechbarkeit des Kinderschutzteams gewährleistet sein. Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat in den Erläuterungen klarzustellen, dass bei schulstandortübergreifenden Kinderschutzteams eine bedarfsgerechte Erreichbarkeit bzw. Ansprechbarkeit für Meldungen über Gefährdungen nach § 13 Abs. 2 zu gewährleisten ist.
Zu § 12 Abs. 2
Die Prüfung der Wahrnehmung Dritter im Rahmen möglicher Gefährdungsanzeichen ist wichtig und legitim. Jedoch muss hier unbedingt auf die Gefahr der „Re-Viktimisierung“ der von Gewalterfahrungen betroffenen Personen durch eine solche Prüfung verwiesen werden. Im Vordergrund muss zunächst immer erst der Schutz und das Ernst-Nehmen der von Gewalterfahrungen betroffenen Personen stehen.
Zu §§ 12, 13 bzw. 14
In diesen Paragraphen führt die Verordnung näheres zu Aufmerksamkeit gegenüber bzw. Meldungen von Gefährdungen durch physische, psychische oder sexualisierte Gewalt, sowie zur Dokumentation letzterer aus.
Damit v.a. Schüler*innen mit Behinderungen, aber auch jene andere in § 13 Abs. 2 der vorliegenden Verordnung angeführten Personengruppen mit Behinderungen, Meldungen über mögliche Gefährdungen gleichberechtigt mit anderen abgeben können bedarf es barrierefreier Meldeformate bzw. -möglichkeiten. Zusätzlich dazu muss aber auch der Austausch im Rahmen der Klärung unterschiedlicher Wahrnehmungen über eine mögliche Gefahrenlage und eine allenfalls weitere Vorgehensweise (nach § 12 Abs. 1), sowie die Dokumentation über Wahrnehmungen und Gespräche über Gefährdungen (nach § 14 Abs. 1) in barrierefreien Formaten stattfinden.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat, dass in den Erläuterungen klargestellt wird, dass der Austausch im Rahmen der Klärung unterschiedlicher Wahrnehmungen über eine mögliche Gefahrenlage und eine allenfalls weitere Vorgehensweise, Meldungen von Gefährdungen sowie die Dokumentation in barrierefreien Formaten zu erfolgen hat.
Mit besten Grüßen
Für Vize-Präsident Martin Ladstätter MA
Felix Steigmann BA MA
1 Vgl. BGBl. I Nr. 140/230 Z. 4, https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2023_I_140/BGBLA_2023_I_140.html Letzter Zugriff: 28.02.2024.
2 Siehe hierzu: BMASGK: Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen. 2019. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=718 Letzter Zugriff: 19.03.2024.
3 Im Bereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche z.B. die Fachstelle Selbstlaut. Siehe hierzu: https://selbstlaut.org/ Letzter Zugriff: 19.03.2024.