Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrats zum Entwurf einer Verordnung, mit der die Verordnung über die Lehrpläne der Allgemeinbildenden Höheren Schulen geändert wird
Der Österreichische Behindertenrat ist die Interessenvertretung der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen in Österreich. In ihm sind über 85 Mitgliedsorganisationen organisiert. Auf Grund der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen verfügt der Österreichische Behindertenrat über eine einzigartige Expertise zu allen Fragen, welche Menschen mit Behinderungen betreffen.
Der Österreichische Behindertenrat dankt dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung für die Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme und erlaubt sich diese wie folgt auszuführen:
Allgemeines
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt grundsätzlich den Schritt, mit dieser Verordnung die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) auf der Sekundarstufe II als Unterrichtsgegenstand einzuführen. Mit der Novelle wird es ermöglicht, ÖGS als zweite lebende Fremdsprache oder Wahlpflichtfach in der Sekundarstufe II zu wählen. Wobei hier zwei Niveaus – Stufe 1 für Schüler*innen ohne Vorkenntnisse und Stufe 2 für Schüler*innen mit Vorkenntnissen – vorgesehen sind.
Dies kann jedoch nur als erster kleiner symbolischer Schritt gesehen werden. Anders als in den Erläuterungen angeführt, fehlt nämlich aktuell ein Lehrplan für die Primar- und Sekundarstufe I. Daher ändert die Novelle kaum etwas an der Realität für gehörlose Kinder und Jugendliche. Nur in Kombination mit einem Lehrplan auch für die ersten acht Schulstufen kann wirklich etwas bewegt werden.
Außerdem ist anzumerken, dass im Lichte der UN-BRK und der im letzten Jahr ergangenen Handlungsempfehlungen die Einführung eines Unterrichtsgegenstands nicht ausreicht, viel mehr geht es darum, ÖGS als Unterrichtssprache zu etablieren und damit einen bilingualen Unterricht zu ermöglichen.1
In diesem Sinne sind aus Sicht des Österreichischen Behindertenrats folgende Anmerkungen zu machen.
Anmerkungen
ÖGS vom Kindergarten an
Bildung beginnt nicht erst mit dem Eintritt in die Volksschule. In der Regel ist der Kindergarten die erste Bildungseinrichtung, mit der Kinder mit und ohne Behinderungen in Berührung kommen.
Laut UN-Behindertenrechtskonvention haben die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen zu gewährleisten.2 Für gehörlose Kinder bedeutete dies, dass sie vom Beginn ihrer Bildungskarriere an – also ab dem ersten Tag im Kindergarten – die Möglichkeit haben in ÖGS zu kommunizieren.
Um ein solch barrierefreies Umfeld für gehörlose Kinder im Bereich der Elementarbildung zu gewährleisten, braucht es u.a. ÖGS-kompetente Elementarpädagog*innen und Mitarbeiter*innen bzw. gehörlose Elementarpädagog*innen und Mitarbeiter*innen, die als Rollenvorbilder und authentische Vermittler*innen der gehörlosen Kultur und Identität fungieren. Neben ausreichend Personal in allen Bundesländern ist auch die barrierefreie Ausgestaltung des Kindergartens bzw. von Spielsachen, Lehr- und Fördermaterial für eine gleichberechtigte Teilhabe von gehörlosen Kindern an der Elementarbildung unerlässlich.
ÖGS in allen Schularten und -stufen
Der vorliegende Entwurf bezieht sich nur auf die Lehrpläne für die Sekundarstufe II. Dies widerspricht jedoch der von Österreich eingegangenen Verpflichtung ein inklusives, Schularten und -stufen übergreifendes Bildungssystem zu gewährleisten.3 Für eine chancengleiche, diskriminierungsfreie und qualitativ hochwertige Bildung muss es für gehörlose Kinder möglich sein, ÖGS als Unterrichtssprache über die Volksschule, die unterschiedlichen Schularten der Sekundarstufe I und Sekundarstufe II bis hin zum Ende letzterer zu nutzen.
Zusätzlich sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass mit einem Sonderschulabschluss keine Aufstiegsrechte verbunden sind.4 Dies hat zu Folge, dass der überwiegenden Mehrheit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, denen ein sogenannter sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) beschieden wurde der Übertritt in die Sekundarstufe II bereits im Vorhinein strukturell verunmöglicht wird.
ÖGS als Unterrichtssprache
Um gehörlosen Kindern und Jugendlichen wirklich chancengleiche und diskriminierungsfreie Bildung zu ermöglichen, reicht ÖGS als Unterrichtsgegenstand, schon gar nicht nur in der Sekundarstufe II, nicht aus. Zumal sich die im Gesetzesentwurf vorgesehene Möglichkeit ÖGS in der Sekundarstufe II je nach Vorkenntnis in unterschiedlichen Niveaus wählen zu können bei genauerem Hinsehen als praxisfern und inklusionshemmend erweist.
Auf den ersten Blick mag dies vor allem für nicht gehörlose Kinder und Jugendliche sinnvoll erscheinen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es zu keinem inklusiven gemeinsamen Unterricht im Unterrichtsgegenstand ÖGS von gehörlosen und nicht gehörlosen Kindern und Jugendlichen kommen wird, da die Sprachniveaus zwischen den beiden Gruppen von Kindern und Jugendlichen zu weit auseinander liegen.
Damit gehörlose Kinder und Jugendliche einen gleichberechtigten Zugang zu qualitätsvoller Bildung haben können braucht es nicht nur einen Unterrichtsgegenstand ÖGS, sondern dringend ÖGS als Unterrichtssprache in allen Schularten und -stufen. Dies hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinen Abschließenden Bemerkungen zur zweiten Staatenprüfung Österreich festgestellt und empfohlen, „die Österreichische Gebärdensprache im Bildungswesen anzuerkennen und sie in den Schulen wirksam als Unterrichtssprache […] einzusetzen“.5 Nur ein bilingualer Unterricht, in dem ÖGS sowie Lautsprache als Unterrichtssprachen gleichberechtigt neben- und miteinander genutzt werden können, ist ein inklusiver Unterricht.
Ausreichende Ressourcen
Für eine qualitative inklusive Bildung von gehörlosen Kindern und Jugendlichen – für ÖGS vom Kindergarten an, ÖGS in allen Schularten und -stufen und ÖGS als Unterrichtssprache – braucht es ausreichend Ressourcen. Insbesondere sind hier ausreichend ÖGS kompetente Elementarpädagog*innen und Kindergartenmitarbeiter*innen sowie ausreichend ÖGS kompetente Lehrer*innen für alle Schularten und -stufen in allen Bundesländern zu nennen.
Des Weiteren werden entsprechende Lern- und Unterrichtsmaterialien benötigt. Diese müssen nicht nur barrierefrei sein, sondern auch im Einklang mit der sozialen und kulturellen Identität der österreichischen Gebärdensprachgemeinschaft stehen.
Selbst die im vorliegenden Entwurf vorgesehenen Maßnahmen, die auf dem Weg hin zu einer chancengleichen Bildung für gehörlose Kinder und Jugendliche nicht mehr (und auch nicht weniger) als ein kleiner Schritt sind, bedürfen finanzieller Aufwendungen. Ganz zu schweigen von der Gewährleistung inklusiver Bildung für gehörlose Kinder und Jugendliche unter der Berücksichtigung der in dieser Stellungnahme genannten Aspekte.
Deshalb ist es umso verwunderlicher, dass sich laut Wirkungsfolgenabschätzung aus den im Entwurf enthaltenen Maßnahmen „keine finanziellen Auswirkungen auf den Bund, die Länder, die Gemeinden oder auf die Sozialversicherungsträger.“6 ergeben. Hier bedarf es unbedingt der entsprechenden finanziellen Mittel, um die geplanten Maßnahmen umsetzen zu können.
Der Österreichische Behindertenrat ist daher skeptisch, dass die Ziele der Gesetzesnovelle erreicht werden können. Ein substantieller Schritt in Richtung inklusive Bildung ist daher für uns nicht erkennbar.
Mit besten Grüßen
Für Vize-Präsident Martin Ladstätter MA
Felix Steigmann BA MA
1 Vgl. Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten periodischen Bericht Österreichs. 2023. Para 58 g. https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:a0700fa3-63ae-444f-962c-11edf3360bf5/2._UN-BRK-Staatenpr%C3%BCfung_%C3%9Cbersetzung_abschlie%C3%9Fende_Bemerkungen_DE_mit_Korrigendum.pdf Letzter Zugriff: 24.04.2024.
2 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention (2008/2016), Art. 24 Abs. 1. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=19 Letzter Zugriff: 08.04.2024.
3 Vgl. ebd., Art. 24 Abs. 1, Abs. 2 b..
4 Vgl. Schulpflichtgesetz, § 8a Abs. 1 bzw. Schulunterrichtsgesetz, § 32 Abs. 2.
5 Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten periodischen Bericht Österreichs. 2023. Para 58 g.
6 Vgl. Begutachtung – Verordnung des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung, mit der die Verordnung über die Lehrpläne der allgemeinbildenden höheren Schulen geändert wird. Anlage: WFA_Ergebnisdokument.pdf S. 1