Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrats zum Entwurf der NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung
Der Österreichische Behindertenrat dankt dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung für die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme und erlaubt sich diese wie folgt auszuführen:
Allgemeines
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt grundsätzlich, dass bestimmte Voraussetzungen für Bewilligungs- und Aufsichtsverfahren für teilstationären und stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Form einer Verordnung festgelegt werden, und damit – so die Erläuterungen – u.a. Regelungen und Begrifflichkeiten an die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) angepasst werden sollen.1
Gerade in Bezug auf die UN-BRK ist jedoch anzumerken, dass diese im Sinne der Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen selbstbestimmte Wohnmöglichkeiten in der Gemeinschaft und die entsprechenden dafür benötigten Unterstützungsleistungen vorsieht.2 Dies wurde erst 2023 vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterstrichen, und eine umfassende nationale De-Institutionalisierungsstrategie für Österreich empfohlen.3 Folglich ist eine Forcierung der Persönlichen Assistenz, die Bereitstellung barrierefreier Wohnungen und bedarfsgerechter Unterstützungsleistungen unter Aufwendung der hierfür notwendigen Ressourcen gegenüber der Verfestigung exkludierender Strukturen zu priorisieren.
Weiters ist die Anpassung an die Begrifflichkeiten der UN-BRK noch verbesserungswürdig. Der Verordnungsentwurf weist an vielen Stellen noch ein defizit-orientiertes medizinisches, und somit nicht UN-BRK konformen Modell von Behinderung auf. Auch ist es fraglich, inwiefern die Erarbeitung der Verordnung dem Partizipationsgebot gemäß Art. 4 Abs. 3 UN-BRK gerecht wurde.
In diesem Sinne sind aus Sicht des Österreichischen Behindertenrats folgende Anmerkungen zu machen.
Anmerkungen
UN-Behindertenrechtskonventionskonformes Modell von Behinderung und diskriminierender Sprachgebrauch
Obwohl ein wesentliches Ziel des Verordnungsentwurfs die „Aktualisierung der Regelungen und Begrifflichkeiten unter Beachtung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“4 ist, weist er diesbezüglich noch enorme Defizite auf. So ist in Bezug auf den Anwendungsbereich von „Personen, die auf Grund einer wesentlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Beeinträchtigung der Sinne nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft zu einer selbständigen Lebensführung zu gelangen oder diese beizubehalten.“5 die Rede. Hier zeigt sich ein stark defizit-orientiertes Verständnis von Behinderung, das die vielfältigen Barrieren seitens der Mehrheitsgesellschaft – die nach der UN-BRK in Wechselwirkung mit der jeweiligen Beeinträchtigung Menschen an der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft behindern6 – negiert. Über das stark defizit-orientierte Verständnis von Behinderung kann auch die Zielgruppendefinition in § 1 der Verordnung nicht hinwegtäuschen: „Zielgruppe dieser Verordnung sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen, diese umfassen Menschen mit intellektueller und/oder mehrfacher Behinderung und Menschen mit psychischen Erkrankungen“7. Menschen mit Behinderung haben keine besonderen Bedürfnisse, im Gegenteil. Sie sind Rechtssubjekte und haben dieselben Menschenrechte und Grundfreiheiten wie Menschen ohne Behinderungen. Weiters ist Österreich als Vertragsstaat dazu verpflichtet die Verwirklichung dieser Rechte, ohne jede Form von Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern.8
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat § 1 Abs. 2 zu streichen und durch folgende Wortfolge zu ersetzen:
„(2) Zielgruppe dieser Verordnung sind Menschen mit Behinderungen. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können. Im Folgenden werden sie auch Klient bzw. Klientin genannt.“
Weiters fordert der Österreichische Behindertenrat im gesamten Verordnungsentwurf sowie den Erläuterungen und Anlagen die Wortfolge „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ durch „Menschen mit Behinderungen“ zu ersetzen.
Partizipative Erarbeitung des Verordnungsentwurfs
Laut den Erläuterungen zum vorliegenden Verordnungsentwurf, wurde dieser mit den Trägern und Vertreter*innen der Menschen mit Behinderungen erarbeitet.9 Während eine gemeinsame Erarbeitung mit den Trägerorganisationen in Niederösterreich durchaus plausibel erscheint, gilt dies hoher Wahrscheinlichkeit nach nicht für Menschen mit Behinderungen sowie für Selbstvertretungsorganisationen. Einerseits ist dem Österreichischen Behindertenrat nichts über eine Zusammenarbeit von niederösterreichischen Selbstvertretungsorganisationen mit dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung bekannt, andererseits spricht die inhaltliche Ausgestaltung des Entwurfs – v.a. in Hinblick auf das Verständnis von Behinderung sowie die Verwendung nicht zeitgemäßer Termini – gegen eine vollumfänglich und wirksame Partizipation von Menschen mit Behinderungen und der sie vertretenden Organisationen.
Barrierefreiheit
Positiv ist hervorzuheben, dass der Verordnungsentwurf bei den Ausführungen zur baulichen Gestaltung und Ausstattung der Einrichtungen die Barrierefreiheit grundsätzlich berücksichtigt. Verweise auf Barrierefreiheitsstandards, die niederösterreichweit die Einheitlichkeit von Wohn- und Tagesbetreuungseinrichtungen hinsichtlich Barrierefreiheit gewährleisten könnte fehlen jedoch. Zudem zeigt sich auch hier das defizit-orientierte medizinische Verständnis von Behinderung, wenn es heißt, dass die Einrichtungen „entsprechend der Art der auszugleichenden Behinderung bzw. Erkrankung der betreuten Menschen mit besonderen Bedürfnissen barrierefrei zu errichten und auszustatten [sind].“10
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat § 4 Abs. 2 zu streichen und durch folgende Wortfolge zu ersetzen:
„(1) Die Einrichtungen sind entsprechend der in Anlage 6 aufgelisteten Mindeststandards barrierefrei zu errichten und auszustatten.“
sowie eine entsprechende Anlage 6, in der die ÖNORMEN B1600 (Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen), ÖNORM B 1601 (Barrierefreie Gesundheitseinrichtungen, assistive Wohn- und Arbeitsstätten – Planungsgrundlagen) und ÖNORM EN 81-70 (Sicherheitsregeln für die Konstruktion und den Einbau von Aufzügen – Zugänglichkeit von Aufzügen für Personen einschließlich Personen mit Behinderungen) kundgetan sind, zu ergänzen.
Für ein gutes Zusammenleben und -arbeiten der Klient*innen und Mitarbeiter*innen der Einrichtungen braucht es einerseits eine Hausordnung, in der wichtige Informationen für die Zeit des Aufenthaltes in der Einrichtung festgehalten sind, andererseits auch Beschwerdemöglichkeiten für die Klient*innen. Die entsprechenden Informationen müssen aber für Menschen mit Behinderungen barrierefrei bzw. in verständlicher Form verfügbar sein.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat § 16 Abs. 4 um folgendes in fett
„(4) Nähere Informationen für die Regelungen für die Zeit des Aufenthaltes in der Einrichtung sind in der Hausordnung festzulegen. Die Hausordnung ist jeder Klientin und jedem Klienten unabhängig von der Aufenthaltsdauer in verständlicher Form zur Kenntnis zu bringen und in der Einrichtung auszuhängen und mindestens jährlich mit den Klientinnen und Klienten zu evaluieren“
sowie § 18 Abs. 2 durch folgendes in fett
„(2) Adresse, Mail, Telefonnummer, Kontaktpersonen von der Aufsichtsbehörde sind in der Einrichtung an einem allgemein zugänglichen Ort deutlich sichtbar und barrierefrei kundzumachen und wenn möglich auch elektronisch in barrierefreier Form zur Verfügung zu stellen.“
zu ergänzen.
In Anlage 3 Organisatorischer Brandschutz in stationären und teilstationären Einrichtungen sind Anforderungen an den Brandschutz aufgelistet. Auffallend ist hierbei u.a., dass die Klient*innen sowie deren Aufklärung in verständlicher Form nicht berücksichtigt wurden. Für einen effektiven Brandschutz ist es jedoch unerlässlich, dass sowohl die Brandschutzordnung als aus das Evakuierungskonzept nicht nur – wie im jetzigen Entwurf vorgesehen – dem Einrichtungspersonal, sondern auch den Klient*innen nachweislich und in verständlicher Form zur Kenntnis gebracht werden.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat, Punkt 1 in Anlage 3 durch folgendes in fett
„1. Eine Brandschutzordnung ist zu erstellen, in welcher die notwendigen Maßnahmen zur Brandverhütung sowie die durchzuführenden Maßnahmen im Brandfall, speziell im Hinblick auf die Evakuierung der Klientinnen und Klienten der Einrichtung festzuhalten sind. Die Brandschutzordnung ist dem Personal der Einrichtung und den Klient*innen in verständlicher Form nachweislich zur Kenntnis zu bringen.“
sowie Punkt 2 in Anlage 3 durch folgendes in fett
„2. Ein Evakuierungskonzept ist zu erstellen, aus dem hervorgeht, wie im Evakuierungsfall die Klientinnen und Klienten zu sicheren Orten im Freien (Sammelplatz) kommen. Hierbei ist auf die individuellen Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten im Evakuierungsfall einzugehen. Das Evakuierungskonzept ist dem Personal der Einrichtung und den Klient*innen in verständlicher Form nachweislich zur Kenntnis zu bringen.“
zu ergänzen.
Gleiches gilt für die Flucht- und Rettungspläne in den Einrichtungen. Damit sich neben den Mitarbeiter*innen auch die Menschen mit Behinderungen im Brandfall richtig zu verhalten wissen, müssen Flucht- und Rettungspläne zwingend notwendig auch in barrierefreier Ausführung vorhanden sein.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat, Punkt 4 in Anlage 3 durch folgendes in fett
„4. Flucht- und Rettungspläne sind in jedem Geschoß an gut sichtbaren Stellen und in barrierefreier Form auszuhängen.“
zu ergänzen.
Für einen effektiven (Brand-)Schutz ist es zudem unerlässlich, dass Notfallmeldungen umfassend barrierefrei nach dem Mehr-Sinne-Prinzip funktionieren. Das heißt, dass Brandmeldungen akustisch (durch entsprechende akustische Zeichen, Lautsprecher etc.), visuell (durch Warnlichter, elektronische Textdarstellung etc.) und zusätzlich auch durch persönliche Kontaktaufnahme zu erfolgen haben. Zudem muss in Leichter Sprache und Österreichischer Gebärdensprache gemeldet werden. Darüber hinaus muss die Meldung handlungsorientiert sein. Es muss also klar ersichtlich sein, wie man sich im Brandfall zu verhalten hat.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat, Punkt 10 in Anlage 3 durch folgendes in fett
„10. Die technischen Anlagen sind von hierzu Berechtigten in ausreichenden Intervallen überprüfen zu lassen, insbesondere:
– Brandmeldeanlage nach dem Mehr-Sinne-Prinzip jährlich“
zu ergänzen.
Katastrophenschutz
Während der Verordnungsentwurf in Anlage 3 Ausführungen zum Brandschutz enthält, fehlen Ausführungen zum Katastrophenschutz. Dies ist jedoch besonders geboten, da die Häufigkeit und Intensität von Naturkatastrophen in den letzten Jahren zugenommen. Bei der Flut im deutschen Ahrtal im Juli 2021 starben 12 Menschen mit Behinderungen in einer Einrichtung der Lebenshilfe in Sinzig, weil sie beim Katastrophenschutz nicht ausreichend mitgedacht und entsprechend gewarnt wurden.11 Verpflichtende Katastrophenschutzpläne auf Einrichtungsebene können – neben und zusammen mit jenen auf Landes-, Bezirks- und Gemeindeebene – effektiv zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Katastrophenfall beitragen. Ganz grundsätzlich sind bei der Entwicklung solcher Pläne Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen wirksam zu beteiligen.
Unter Berücksichtigung der jeweiligen sozialen Struktur in den Einrichtungen (z.B. Alter und Anzahl der Klient*innen, Behinderungsform, Unterstützungsbedarf etc.) hat eine Katastrophenschutzplan sicherzustellen, dass sowohl das Personal als auch die Klient*innen rechtzeitig, handlungsorientiert und barrierefrei gewarnt bzw. alarmiert werden. Um effektiven Schutz für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten haben Warnung bzw. Alarmierung unbedingt nach dem Mehr-Sinne-Prinzip (s.o. bei Barrierefreiheit) zu erfolgen. Zudem hat ein Katastrophenschutzplan Szenarien für unterschiedliche Katastrophenfälle (z.B. Hochwasser, Waldbrand, Hitzewelle etc.) zu enthalten, welche regelmäßig und unter möglichst realistischen Bedingungen im Rahmen von Katastrophenschutzübungen zu simulieren sind. Auch muss der Katastrophenschutzplan – analog zu Brandschutzordnung, Flucht- und Rettungsplänen – sowohl dem Personal als auch den Klient*innen in verständlicher Form zur Kenntnisgebracht und in barrierefreier Form ausgehängt werden. Damit Katastrophenschutzpläne letztendlich effektiv angewendet werden können, braucht es auch ausreichend Personal in Wohn- und Tagesbetreuungseinrichtungen, bei ersteren v.a. auch während der Nachtdienste. Die Betreuungsschlüssel in Anlage 4 Mindestpersonalbedarf berücksichtigen jedoch keine Nachtdienste.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat die Verordnung um entsprechende Ausführungen zu verpflichtenden Katastrophenschutzplänen zu ergänzen, sowie entsprechende Betreuungsschlüssel für Nachdienste in Anlage 4 Mindestpersonalbedarfe aufzunehmen.
Qualifikation für Personal und Leitungspersonen
In § 7 bzw. § 8 sind die für Qualifikationen für Personal und Leitungspersonen aufgeführt. In beiden Fällen heißt es im jeweiligen Abs. 5, dass das Personal bzw. Leitungspersonen „keine physischen oder psychischen Mängel haben [dürfen], durch die die Menschen mit besonderen Bedürfnissen in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden könnten.“12 Davon abgesehen, dass es sich hierbei um einen diskriminierenden und behindertenfeindlichen Sprachgebrauch handelt, stellt ein Ausschluss von Menschen mit psychischen Erkrankungen nur auf Grund ihrer Erkrankung eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar.13 Um einen Ausschluss von Menschen mit psychischen Erkrankungen sachlich zu rechtfertigen braucht es hingegen bei berechtigten Zweifeln hinsichtlich der Wahrnehmung der Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber den Klient*innen eine Einzelfallprüfung, die anhand klar definierter Kriterien durchgeführt wird, und auf Basis derer eine erhebliche Gefährdung der Klient*innen anzunehmen ist.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat die Erläuterungen um entsprechende Ausführungen zu den berechtigten Zweifeln, der Einzelfallprüfung und den dabei heranzuziehenden Kriterien zu ergänzen, sowie § 7 Abs. 5 zu streichen und durch folgende Wortfolge zu ersetzen:
„(5) Das eingesetzte Personal darf keine gerichtlichen Verurteilungen haben, die das Wohl der Menschen mit Behinderungen gefährdet erscheinen lassen. Bestehen bei Personen mit psychischen Erkrankungen berechtigte Zweifel hinsichtlich der Wahrnehmung der Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber den Klient*innen ist im Rahmen einer Einzelfallprüfung über deren Tauglichkeit zu entscheiden.“
sowie § 8 Abs. 5 zu streichen und durch folgende Wortfolge zu ersetzen:
„(5) Leitungspersonen dürfen keine gerichtlichen Verurteilungen haben, die das Wohl der Menschen mit Behinderungen gefährdet erscheinen lassen. Bestehen bei Personen mit psychischen Erkrankungen berechtigte Zweifel hinsichtlich der Wahrnehmung der Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber den Klient*innen ist im Rahmen einer Einzelfallprüfung über deren Tauglichkeit zu entscheiden.“
Effektiver Gewaltschutz
Anlage 5 des vorliegenden Entwurfs weist Gewaltprävention als einen erforderlichen inhaltlichen Bereich des Betreuungs- bzw. Rehabilitationskonzepts von Wohn- und Tagesbetreuungseinrichtungen aus. Dies ist insofern wichtig, als dass Menschen mit Behinderungen einem signifikant höheren Gewaltrisiko – v.a. in Bezug auf sexualisierte Gewalt – ausgesetzt sind als Menschen ohne Behinderungen.14 Nähere Ausführungen dazu, wie die Gewaltprävention genau funktionieren soll, finden sich im Entwurf jedoch nicht. Um Menschen mit Behinderungen in Wohn- und Tagesbetreuungseinrichtungen umfassend und effektiv vor physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt schützen zu können braucht es ein verpflichtendes Gewaltschutzkonzept, das in einem Prozess uneingeschränkter und wirksamer Partizipation relevanter Akteur*innen entwickelt wird. Hierzu gehören u.a. insbesondere Menschen mit Behinderungen, ihre Organisationen sowie Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis. Bei der Entwicklung sind wissenschaftliche Standards zum Gewaltschutz zwingend zu berücksichtigen.
Anzudenken ist ein niederösterreichweiter Mindeststandard-Entwurf für ein Gewaltschutzkonzept für alle Einrichtungen nach der NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung. Darüber hinaus sollte es jeder Einrichtung offenstehen, über solche Mindeststandards hinausgehende Regelungen zu beschließen, und dabei ggf. einrichtungsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Um die Wirksamkeit des Gewaltschutzkonzepts sicherzustellen, bedarf es einer regelmäßigen verpflichtenden externen Evaluation.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat Anlage 5 um Ausführungen zu Mindeststandards für ein verpflichtendes Gewaltschutzkonzept zu ergänzen.
Recht auf Information und Privatsphäre
In § 14 zählt der vorliegende Verordnungsentwurf Rechte der Klient*innen, die der Einrichtungsträger durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen hat, auf. Hierzu gehört u.a. die Einsichtnahme in die personenbezogene Dokumentation der Klient*in. Dabei heißt es: „Einschränkungen in die Einsichtnahme sind nur insoweit zulässig, als sie auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles zum Wohl der Klientin bzw. des Klienten unvermeidlich sind, einer Vertreterin bzw. einem Vertreter der Klientin bzw. des Klienten kommt auch in einem solchen Fall ein uneingeschränktes Einsichtsrecht zu“15. Hierzu ist anzumerken, dass es allgemein keine gesetzliche Grundlage dafür gibt, Personen – zumindest solange sie entscheidungsfähig sind und keine erhebliche Gefährdung ihre Wohls zu erwarten ist – die Einsichtnahme in sie betreffende private Informationen einzuschränken. Zudem darf eine Erwachsenenvertretung in Angelegenheiten, die in der Persönlichkeit der vertretenen Person gründen (hier: Einsicht in die personenbezogene Dokumentation) nicht tätig werden, wenn die vertretene Person entscheidungsfähig ist.16
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat § 14 Abs. 1 Z. 4 zu streichen und durch folgende Wortfolge zu ersetzen:
„4. Einsichtnahme in die personenbezogene Dokumentation gemäß § 9 Abs. 1, Einschränkungen in die Einsichtnahme sind nur insoweit zulässig, als sie auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles eine erhebliche Gefährdung des Wohls der Klient*in vermuten lassen und die Klient*in nicht entscheidungsfähig ist, einer Vertreterin bzw. einem Vertreter der Klientin bzw. des Klienten kommt nur in einem solchen Fall ein uneingeschränktes Einsichtsrecht zu,“
Die Achtung der Privatsphäre ist auch über den Schutz vor unberechtigter Einsicht in die personenbezogene Dokumentation hinausgehend von großer Bedeutung: Während Gewalt zum Teil durch institutionelle Kontexte mitbedingt werden kann, minimieren u.a. ausreichend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten das Risiko von Gewalterfahrung in Einrichtungssettings.17
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat § 4 Abs. 1 durch folgendes in fett
„(1) Die bauliche Gestaltung und die Ausstattung von Einrichtungen muss so beschaffen sein, dass die Durchführung einer fachgerechten Betreuung entsprechend dem Betriebs- und Personalkonzept ermöglicht wird, sodass hygienische Standards eingehalten und körperliche Unversehrtheit sowie ausreichend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten gewährleistet werden.“
zu ergänzen.
Mit besten Grüßen
Für Präsident Klaus Widl
Felix Steigmann BA MA
1 Vgl. Erläuterungen, S. 1.
2 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention (2008/2016), Art. 19. https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=19 Letzter Zugriff: 10.07.2024.
3 Vgl. Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten periodischen Bericht Österreichs, CRPD/C/AUT/CO/2-3, para. 47. https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:a0700fa3-63ae-444f-962c-11edf3360bf5/2._UN-BRK-Staatenpr%C3%BCfung_%C3%9Cbersetzung_abschlie%C3%9Fende_Bemerkungen_DE_mit_Korrigendum.pdf Letzter Zugriff: 10.07.2024.
4 Vgl. Erläuterungen, S. 1.
5 Ebd., S. 3.
6 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel lit. e & Art. 1.
7 Entwurf NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung, § 1 Abs. 2.
8 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 4 Abs. 1.
9 Vgl. Erläuterungen, S. 1.
10 Entwurf NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung, § 4 Abs. 2.
11 Siehe https://www.focus.de/politik/deutschland/ahrtal-12-menschen-starben-weil-das-land-keinezweite-nachtwache-zahlte_id_167021130.html, https://andererseits.org/fuenf-probleme-doku, https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-07/behinderung-katastrophenschutz-barrierefreiheit-ahrtal Letzter Zugriff: 18.07.2024.
12 Entwurf NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung, § 7 Abs. 5 bzw. § 8 Abs. 5.
13 Bei Anstellung beim Land Niederösterreich, niederösterreichischen Gemeinden und Gemeindeverbänden: NÖ Gleichbehandlungsgesetz, § 1 Z. 1 bzw. § 3 Abs. 1 Z. 1 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrNO&Gesetzesnummer=20000466 Letzter Zugriff: 17.07.2024, bei anderweitigen Anstellungen: Behinderteneinstellungsgesetz, § 7a Abs. 1 Z. 1 bzw. § 7b Abs. 1 Z. 1 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008253 Letzter Zugriff: 17.07.2024.
14 Vgl. Mayrhofer et al.: Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen (2019), S. 453
https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=718 Letzter Zugriff:
16.07.2024.
15 Entwurf NÖ Wohn- und Tagesbetreuungsverordnung, § 14 Abs. 1 Z. 4.
16 Vgl. 2. Erwachsenenschutzgesetz, § 250 Abs. 1 Z. 4. https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2017_I_59/BGBLA_2017_I_59.html Letzter Zugriff: 16.07.2024.
17 Vgl. Mayrhofer et al.: Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen (2019), S. 33f.