Aufgrund des Klimawandels treten Starkregenereignisse immer öfter und stärker auf – in Österreich zuletzt Mitte September 2024. Bundespräsident Alexander Van der Bellen mahnte bei der Eröffnung der Konferenz des Österreichischen Behindertenrats zum Thema „Klimakrise: Ohne uns keine Zukunft. Menschen mit Behinderungen können und wollen eine Rolle im Umgang mit der Klimakrise spielen.“ im September 2022: „Es ist eine traurige Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen in Notsituationen und Katastrophen besonders oft und stark zu Schaden kommen. Das ist nicht akzeptabel.“
Im von der Bundesregierung im Juli 2022 beschlossenen Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022–2030 (NAP II) wird angeführt, dass insbesondere die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern hervorzuheben sei, die beispielsweise wichtige Verbesserungen für die Situation von Menschen mit Behinderungen bei Katastrophenfällen und Krisensituationen erzielen soll: „Für Not- und Katastrophenfälle mangelt es an ausreichenden Vorkehrungen, die es ermöglichen, in Hinblick auf die speziellen Anforderungen von Menschen mit Behinderungen zielgerichtet und ohne Zeit- und Ressourcenverluste handeln zu können. Vor allem fehlt es an einer detaillierten Datenlage über die Anzahl und gewöhnlichen Aufenthalte von Menschen mit Behinderungen und deren individuelle Bedarfe (Mobilität, Grundversorgung, Medikamente).“ Laut NAP II sollen Menschen mit Behinderungen und ihre Organisation bei größeren Katastrophen und Pandemien in die Krisenstäbe bzw. Beratungsstrukturen einbezogen sein.
Welchen Gefahren Menschen mit Behinderungen bei Überschwemmungen, Murenabgängen und Stromausfällen ausgesetzt sind, wurde im Februar 2024 im Rahmen eines eintägigen Workshops im Büro des Österreichischen Behindertenrats mit Mitarbeiter*innen von Geosphere (ehemals ZAMG) und neun Expert*innen mit Behinderungen erörtert. Mit großem Interesse nahmen auch Vertreter*innen des Umweltbundesamts, der Region Pinzgau und des Disaster Competence Network Austria-DCNA, einem Kompetenz Netzwerk zur Katastrophenvorsorge, teil.
Menschen sichtbar machen
Nach fast jeder größeren Hochwasserkatastrophe gibt es ähnliche Berichte. Eine Person im Rollstuhl konnte sich nicht selbst in Sicherheit bringen und ertrank. Wenn schon auf Personen mit sichtbaren Behinderungen vergessen wird, wie sehr wird dann auf alle anderen Menschen mit Behinderungen vergessen? Hier setzt der Österreichische Behindertenrat mit seinen Bemühungen an. Alle Menschen mit Behinderungen müssen in allen Phasen einer Bedrohung bedacht werden. Niemand soll im Falle der Gefahr unvorbereitet sein. Niemand soll ohne Vorwarnung, ohne Information und ohne Unterstützung bleiben.
Das Projekt Risc:LOCAL, finanziert vom Klima- und Energiefonds des Klimaministeriums, bietet die Möglichkeit, Anforderungen von Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Gefahrensituationen zu erheben.
Vorbereitung auf Panik und Prothesen
Im Workshop wurden verschiedene Möglichkeiten der Gefährdung besprochen.
Szenario 1 – Die Wege sind blockiert.
Niemand kann zu mir und ich kann nicht weg. Wie darauf vorbereiten?
Szenario 2 – Eine Evakuierung ist nötig.
Was ist zu bedenken? Was nehme ich mit?
Szenario 3 – Es gibt einen Stromausfall.
Was ist am dringendsten? Was tun, wenn der Strom tagelang fehlt (Blackout)?
Im Gespräch wurde schnell deutlich, wie viele unterschiedliche Aspekte zu bedenken sind. „Bei Angsterkrankungen sind manche Menschen in gewissen Notsituationen nicht mehr in der Lage sich zu bewegen“, so Brigitte Heller vom Verein Lichterkette. Schwere Panikattacken können die Gesundheit gefährdende Situation noch weiter verschlimmern. Dabei gilt: Je mehr Dinge im Notfall fehlen, desto größer die Panik. Eine gute Vorbereitung auf den Notfall hilft, um weder in Panik, noch in eine Angststarre zu verfallen. Zusätzlich lässt sich durch Resilienztraining erlernen, besser Ruhe bewahren zu können.
„Verlieren Personen mit Schwerhörigkeit ihr Hörgerät, sind sie verloren. Wenn das Hörgerät nass wird, wird es kaputt“, betont Renate Welter, vom Österreichischen Schwerhörigenbund ÖSB. Die Folge ist Kommunikationsverlust.
Anderen Menschen droht bei Starkregenereignissen der Verlust ihrer Mobilität, wie Corinna Heiss vom Amputiertenverband erläutert: „Elektronische Hilfsmittel und auch Prothesen werden im Wasser sofort kaputt, z.B. ein elektronisches Kniegelenk.“ Das ist wichtig zu wissen, denn in Österreich leben bis zu 40 000 amputierte Menschen, meist ältere Personen. Da ältere Menschen zusätzlich verstärkt von Seh- und Hörschwäche betroffen sind und die meisten Amputationen untere Extremitäten betreffen, besteht schon von Haus aus eine erhöhte Sturzgefährdung.
Sind Wege unterbrochen, ist im Notfall ein Vorrat an Trinkwasser, Lebensmitteln, aber auch an benötigten Medikamenten wichtig. Manche Arzneimittel werden jedoch nicht in größeren Mengen ausgegeben. Eine Vorratshaltung von Medikamenten ist bei derzeitiger Praxis und Rechtslage noch nicht in jedem Fall möglich. Weitere Fortschritte sind anzudenken, denn die Versorgung mit Medikamenten kann auch durch Lieferschwierigkeiten oder die Beeinträchtigung der Produktion durch Katastrophen erschwert werden.
„Blindenstock darf nicht daham bleiben“
„Bei einer Evakuierung muss ich den Blindenstock bei mir haben. Ohne ihn bin ich hilflos“, sagt Matthias Schmuckerschlag, vom Verein Blickkontakt. „Langstock und Hörgeräte sind wichtig und auch, dass man Zeit bekommt, Dinge mitzunehmen. Der Blindenstock, der darf nicht daham bleiben.“ Assistenzhunde müssen natürlich auch mit.
Im Evakuierungsfall kann es erforderlich sein, einen E-Rollstuhl zurückzulassen. Ein möglicherweise benötigtes Beatmungsgerät und Absauggerät dürfen jedoch keinesfalls zurückbleiben, wie Bernadette Feuerstein ausführt.
Manche Menschen mit Behinderungen brauchen eine ständige Beatmung ohne Unterbrechung, um am Leben zu bleiben. Sie brauchen dazu eine durchgehende, unterbrechungslose Stromversorgung. Auch dafür seien Planungen und die Finanzierung sicherzustellen.
Neben der großen Bedeutung von Hilfsmitteln werden auch der Faktor Zeit und individuelle Hürden angesprochen. Daniela Rammel weist in Vertretung kleinwüchsiger Menschen darauf hin, dass es für die Evakuierung Zeit braucht. „Schnell zu flüchten, da hätte ich keine Chance. Aus dem Fenster zu steigen ist schwierig und gefährlich.“
Wissen für Einsatzkräfte
Nicht nur Menschen mit Behinderungen sollten wissen, was im Notfall auf sie zukommt. Die Einsatzkräfte sollten es auch wissen. „Je besser bekannt ist, wem geholfen werden soll, desto besser kann geholfen werden“, sagt Daniele Marano von der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen zum Thema Evakuierungen. In diesem Sinne wird im Gespräch der Wunsch geäußert, dass Einsatzkräfte Formen von Behinderungen geschult werden.“
Für die schnelle und erfolgreiche Evakuierung von Menschen mit Behinderungen ist es sehr wichtig, dass Rettungskräfte wissen, wo Menschen mit Behinderungen auf Rettung warten und welche Unterstützung sie benötigen.
Manche Personengruppen benötigen Unterstützung, lange bevori ihnen das Wasser bis zum Hals steht. „Als blinder Mensch habe ich einen bestimmten Weg zu gehen gelernt. Es nutzt mir nichts, wenn daneben ein Weg frei ist. Ich bin dann, wenn ein neuer, unbekannter Weg zu nehmen ist, auf Hilfe angewiesen“, erklärt Mathias Schmuckerschlag.
Pläne? „Keiner kennt sie, keiner nutzt sie.“
Im Notfall ist es wichtig, bereits einen Plan zu haben. Ein Plan hilft, schnellstmöglich das Richtige zu tun. Für Menschen mit Behinderungen kann ihr Leben davon abhängen, ob sie in einem Katastrophenplan vorkommen.
Einsatzkräfte und Behörden würden dann im Einsatz sofort wissen, welche Personengruppen dringend zuerst Unterstützung benötigen. Und sie würden wissen, wie viele Einsatzkräfte erforderlich sind.
Die Praxis sieht weitgehend anders aus: „Wir gehen bei einer Evakuierung durch und evakuieren jedes Haus. Die Freiwillige Feuerwehr hat keine Infos darüber, wer da ist“, sagt jemand, der es wissen muss: Andreas Weidenauer vertritt Personen mit Sehbehinderungen und ist aktives und langjähriges Mitglied bei einer Freiwilligen Feuerwehr im Waldviertel. Aus der Praxis sieht Andreas Weidenauer die Existenz von neun unterschiedlichen Katastrophenhilfegesetzen in Österreich – jedes Land macht sein eigenes Katastrophenhilfegesetz – und das Fehlen von Katastrophenplänen kritisch. Der Österreichische Behindertenrat sieht die Bundesländer gefordert, ihrer Verantwortung nachzukommen, Menschen mit Behinderungen im Katastrophenschutz wahrzunehmen und Gesetze entsprechend zu überarbeiten.
58.000 Aufzüge im Stromausfall
Fällt der Strom aus, geht Vieles nicht mehr. Unter anderem stehen im selben Moment die Aufzüge still. Personen, die im Lift eingeschlossen sind, sind allesamt auf Hilfe von außen angewiesen. Bei Servicetechniker*innen und Feuerwehren laufen dann die Telefone heiß. Allein in Wien gibt es 58.000 Liftanlagen. Nur wenige moderne Aufzüge verfügen über eine Batterie, wo bei Stromausfall die Aufzugskabine automatisch noch ins nächstgelegene Stockwerk fährt.
„Im Falle der Evakuierung aus einem Aufzug bei Stromausfall muss ich zu jedem Aufzug Notstrom hinbringen, um Personen befreien zu können“, erklärt Bernhard Hruska, Experte für Barrierefreiheit. Läuft der Aufzugsschacht aufgrund eines Starkregens mit Wasser voll, ist zusätzlich zuerst das Wasser abzupumpen, bevor der Aufzug wieder in Bewegung gebracht werden kann. Bernhard Hruska empfiehlt Menschen mit Behinderungen und ihrem Umfeld, sich auch selbst vorzubereiten, um sich im Notfall auch selbst helfen zu können. Selbst die behelfsmäßige Wiederinbetriebnahme eines Aufzuges lässt sich erlernen und im Rahmen der Hausgemeinschaft organisieren, damit nicht zu lange auf Hilfe gewartet werden muss.
Warnungen vor Gefahren
Wie Eigenverantwortung und Zusammenhalt gelebt werden können, berichtet Andreas Zehetner. In seiner Wohngemeinschaft und Werkstätte ist es so: Die Bewohner und Bewohnerinnen „bekommen eine Wetterwarnung mit und warnen sich gegenseitig. Die Einrichtungsleitung hat da nichts zu tun.“
Wachsamkeit und Zusammenarbeit sind wichtige Faktoren dafür, dass Warnungen vor Gefahren bei möglichst allen rechtzeitig ankommen. Andererseits ist wichtig, dass Warnungen „zu den Personen kommen. Die Personen sollen nicht danach suchen müssen. Sie sollen „über alle Kanäle“ ausgesandt werden und barrierefrei sein.
Warnungen sollen klare Empfehlungen enthalten und zu Handlungen führen und vor Schaden bewahren. Brigitte Heller nennt ein Beispiel: „Bitte Medikamentenwarnung bei Hitze.“ Der Hintergrund zu diesem Wunsch ist: Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen verändert sich die Wirkung von Medikamenten bei starker Hitze. Eine Neueinstellung durch Arzt oder Ärztin ist dann häufig dringend notwendig.
Mathias Schmuckerschlag wiederum wünscht sich Push Mitteilungen auf elektronische Geräte. Dieser Wunsch wird im Sommer 2024 Realität: Anderthalb Jahre nach Deutschland hält auch in Österreich „Cell Broadcast“ Einzug. Dann werden Warnnachrichten bei Aufenthalt in einem Gefahrenbereich direkt auf das Handy geschickt.
Anpassungen üben
Was kann getan werden, damit Menschen mit Behinderungen bei Starkregen nicht zu Schaden kommen? Noch sehr viel! Menschen mit Behinderungen müssen in allen Phasen einer Gefahrensituation bedacht und bei der Entwicklung von Lösungen einbezogen werden. Menschen mit Behinderungen müssen künftig unbedingt auch beim Üben von Notfällen und Katastrophenszenarien als Akteure dabei sein. Am besten auf beiden Seiten: Auf Seiten der Behörden und Rettungskräfte und auf Seite der zu Rettenden, auf Hilfe Wartenden.
Katastrophen vermeiden, Klima schützen
Die beste Vorbereitung auf Klimakatastrophen stößt an ihre Grenzen. Mit der Zunahme der weltweiten Temperaturen verdunstet mehr Wasser aus den Meeren, Böden und Wäldern und gelangt in die Luft. Mehr Wasser in der Luft kommt immer öfter als Starkregen zur Erde zurück.
Rekord-Niederschläge und Rekord-Hitzewellen sind Folgen des Menschen gemachten Klimawandels. Unzureichender Klimaschutz heute macht die Katastrophen von morgen. Offen klimafeindliche Maßnahmen und Greenwashing fördern Klimakatastrophen.
Im Interesse der Menschen mit Behinderungen setzt sich der Österreichische Behindertenrat für messbaren Klimaschutz, für das Ziel der Bundesregierung Klimaneutralität bis 2040 und bestmögliche Anpassungen an den Klimawandel ein. Das Projekt Risk:LOCAL wird Anstöße für Verbesserungen zur Anpassung bei Extremwetterereignissen bringen und einen Leitfaden für Bürgermeister*innen erarbeiten.
von Emil Benesch
Fachkonferenz des Österreichischen Behindertenrats: Menschen mit Behinderungen und die Klimakrise
Der Österreichische Behindertenrat veranstaltete am 16. September 2022 eine Fachkonferenz mit dem Titel: „Klimakrise: Ohne uns keine Zukunft. Menschen mit Behinderungen können und wollen eine Rolle im Umgang mit der Klimakrise spielen.“
Stellungnahme Österreichische Strategie zur Anpassung an den Klimawandel