Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte Ungarn wegen tödlicher Vernachlässigung einer Frau mit Lernschwierigkeiten in einer Institution.
Am 10. Oktober 2024 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall „Validity Foundation im Namen von T.J. gegen Ungarn“. Die Klage betraf den Tod von T.J., einer Frau mit Lernschwierigkeiten, die in Ungarn in einer staatlichen Einrichtung lebte und im Jahr 2018 im Alter von 45 Jahren aufgrund von Unterernährung und Vernachlässigung verstarb. Der Gerichtshof stellte fest, dass Ungarn unter anderem gegen das Recht auf Leben (Artikel 2) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat.
Hintergrund des Falls
Die Klägerin, T.J., eine Frau mit Lernschwierigkeiten, lebte seit ihrem zehnten Lebensjahr in der Topház-Einrichtung in Göd. Berichte über die Bedingungen in der Einrichtung wiesen bereits 2017 auf ernsthafte Mängel hin, darunter Personalmangel, unzureichende medizinische und therapeutische Versorgung sowie unangemessene Lebensbedingungen. Die Validity Foundation, eine NGO, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt, besuchte die Topház-Einrichtung im Jahr 2017 und stellte die unzureichenden Lebensbedingungen der Bewohner*innen fest.
Im Laufe der Jahre erlitt T.J. mehrere körperliche Verletzungen, darunter Wunden im Gesicht, am Oberkörper und an den Gliedmaßen, sie wies einen erheblichen Gewichtsverlust auf und war regelmäßig an ihr Bett gefesselt. In den Jahren 2015, 2016 und 2018 wurde bei T.J. eine bakterielle Lungenentzündung diagnostiziert. Im Jahr 2018 wurde sie erneut wegen einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie am 25. August 2018 verstarb.
Die Autopsie bestätigte eine bakterielle Lungenentzündung als Todesursache. Die Validity Foundation argumentierte jedoch, dass T.J.s sich verschlechternde gesundheitliche Verfassung und ihr Tod direkte Folgen der langjährigen Vernachlässigung und unzureichenden Pflege in der Institution waren.
Trotz des Wissens über diese alarmierenden Bedingungen unternahmen die Behörden keine angemessenen Maßnahmen. Die Behörden konzentrierten sich in ihrer Untersuchung zum Tod von T.J. lediglich auf die direkte Todesursache – eine Lungenentzündung – ohne die schwerwiegenden Mängel im Pflege- und Betreuungssystem zu berücksichtigen.
Gerichtliche Entscheidung
Die Familie von T.J. führte den Fall vor den EGMR und machte geltend, dass die unzureichende Versorgung und die unmenschlichen Bedingungen in der Einrichtung direkt zum Tod ihrer Angehörigen geführt hätten. Der Gerichtshof gab der Klägerin recht und entschied, dass Ungarn unter anderem gegen Artikel 2 (Recht auf Leben) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Insbesondere wurde festgestellt, dass die Behörden ihre Verantwortung, die Bewohner*innen der Einrichtung zu schützen, grob vernachlässigt haben.
Bedeutung der Entscheidung
Die Entscheidung des EGMR hat weitreichende Bedeutung. Sie verdeutlicht nicht nur die Verantwortung von Staaten, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu schützen, sondern stellt auch die institutionelle Unterbringung selbst in Frage. Trotz internationaler Verpflichtungen, wie der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), leben Schätzungen zufolge immer noch rund 1,5 Millionen Menschen in der Europäischen Union in Einrichtungen.[1] Diese Einrichtungen sind oft schlecht ausgestattet, personell unterbesetzt und bieten unzureichende Gesundheits- und Pflegedienste.
Die Entscheidung des EGMR sollte als eindringlicher Appell an alle Mitgliedstaaten verstanden werden, die UN-BRK mit Nachdruck umzusetzen. Dies beinhaltet die dringende Notwendigkeit, Einrichtungen wie Topház einzustellen und stattdessen angemessene, barrierefreie Wohnmöglichkeiten sowie umfassende Unterstützungsleistungen bereitzustellen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben in ihren Gemeinschaften zu führen.
[1] Report on the Transition from Institutional Care to Communty-Based Servies in 27 EU Member States, https://ogy.de/eeg-di-report-2020-1 (2020), S. 3.
Urteil: VALIDITY FOUNDATION ON BEHALF OF T. J. v. HUNGARY
von Victoria Biber