„Gesundheit von Menschen mit Behinderung – eine diversitätssensible Perspektive“ lautet der Titel einer Ringvorlesung an der Medizinischen Universität Innsbruck im Wintersemester 2024/25.
An 15 Terminen immer donnerstags von 18.30 – 20.00 Uhr findet die Ringvorlesung von 03.10.2024 bis 30.01.2025 statt. Sie wird in ÖGS (Österreichische Gebärdensprache) gedolmetscht.
Der Österreichische Behindertenrat hat an zwei Terminen per Livestream teilgenommen:
Vortrag 1 vom 03.10.2024: Gesundheit von Menschen mit Behinderung aus Sicht der Diversitäts- und geschlechtersensiblen Medizin
Univ.-Prof.in Dr. Sabine Ludwig, MSc, MA, Professorin für Diversität in der Medizin, Direktorin Institut für Diversität in der Medizin, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich, Gründerin Women in Global Health Germany, Mitglied Women in Global Health Austria
Frau Univ.-Prof. Dr. Ludwig näherte sich dem Thema auf drei Ebenen: der globalen, der EU-Ebene und der nationalen. Sie führte in die Geschlechter- und diversitätssensible Medizin ein und erläuterte wichtige Begrifflichkeiten und Konzepte.
Globale Ebene
Sie erläuterte den globalen Bericht über gesundheitliche Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen der Weltgesundheitsorganisation. Dort wird darauf hingewiesen, dass eine von sechs Personen weltweit eine Behinderung hat. Sie strich auch die erhöhte Wahrscheinlichkeit hervor, dass Menschen mit Behinderungen bis zu 20 Jahre früher sterben als Menschen ohne Behinderungen und statistisch gesehen, häufiger an chronischen Krankheiten leiden.
Danach verwies sie auf den MC Kinsey Report. Dieser legt ein Augenmerk auf die ökonomische Komponente. Investitionen in ein inklusives Gesundheitssystem, etwa in die Prävention von Krebserkrankungen und chronischen Erkrankungen, lohnt sich am Ende finanziell für jedes Land.
Ludwig spielte sodann eine aufrüttelnde Rede der ersten gehörlosen Absolventin der Harvard Law School ab.
EU-Ebene
Hier wies die Vortragende darauf hin, dass Eurostat die Daten zum Thema Chancengleichheit und Nicht-Diskriminierung im April aktualisiert hat.
In der EU haben Stand 2022 27% der Personen ab 16 Jahren eine Behinderung.
Die Beschäftigungsrate von Menschen mit Behinderungen liegt bei 50,8% im Vergleich zu 75% bei Personen ohne Behinderungen.
Es gibt insgesamt mehr Frauen mit Behinderungen als Männer mit Behinderungen.
Da Frauen mit Behinderungen eine besonders vulnerable Gruppe darstellen, legt Ludwig auch in ihrem Vortrag einen Fokus auf dieses Thema. Sie berichtet etwa, dass es in ganz Berlin lange Zeit nur eine einzige gynäkologische Praxis mit verstellbarem Stuhl zur Verfügung gab.
Österreich
Hier bezieht sich die Vortragende vor allem auf den Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) Frauengesundheitsbericht.
Hier ist die Verteilung der Menschen mit registrierter Behinderung nach Leistungsart bzw. Status ersichtlich. Zum Beispiel, dass 40,6% von ihnen ausschließlich Pflegegeld beziehen. Zum Thema Gesundheit finden sich auch hier leider keine Daten. Generell ist die Datenlage zum Thema Gesundheit und Menschen mit Behinderungen in Österreich quasi nicht vorhanden.
Weiters erwähnt Ludwig Kriterien für barrierefreie Arztpraxen, die das Robert Koch Institut 2020 veröffentlicht hat, und appelliert an alle Teilnehmenden, diese in ihrer eigenen täglichen und zukünftigen Praxis zu beachten.
Zuletzt verweist sie auf eine prestigeträchtige Veranstaltung, die jährlich in Österreich stattfindet. Beim European Health Forum in Gastein versammelt sich die EU-Spitze zum Thema Gesundheit im Österreichischen Gasteiner Tal.
Vortrag 2 vom 31.10.2024: Gynäkologische Versorgung von Menschen mit Behinderung
Dr. Elisabeth Reiser, Fachärztin, Universitätsklinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
Der Vortrag „Gynäkologische Versorgung von Menschen mit Behinderung“ beleuchtete die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen in der gynäkologischen Betreuung von Menschen mit Behinderung.
Erster Besuch
Frau Dr. Elisabeth Reiser sprach davon, dass der erste gynäkologische Besuch, insbesondere bei Mädchen mit Lernschwierigkeiten und Entwicklungsverzögerungen weitaus früher stattfindet als bei Mädchen ohne Behinderung. Als einen der wesentlichen Gründe hierfür nannte sie Menstruationsmanagement, also die Vorbereitung auf Blutung und Verhütung. Deshalb findet der erste gynäkologische Besuch von Mädchen mit Behinderungen oft schon vor der ersten Regelblutung statt.
Verhütung
In Österreich wird bei Personen mit sog. „Compliance-Problemen“, also Personen, denen es schwerfällt, ein Verhütungsmittel wie die Pille regelmäßig und zuverlässig einzunehmen, die Verhütung via Implantat empfohlen. Dies, obwohl dies einen „off-label“-use, also die Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der Bedingungen ihrer Zulassung, darstellt. Off-Label-Use ist grundsätzlich nicht verboten, bedarf jedoch erhöhter besonderer Aufklärungspflichten.
Reiser weist auch auf die problematische Kombination von Anti-Epileptika und hormonellen Kontrazeptiva hin.
Sexualität
Hier nennt Reiser folgende Barrieren, die Menschen mit Behinderungen an der Ausübung ihrer Sexualität hindern: Tage zu durchstrukturiert und daher zu wenig Zeit für sexuelle Kontakte, wenig Kontakt zu Gleichaltrigen, fehlendes Wissen, z.B. Benennung der Geschlechtsteile, Angewiesenheit auf Dritte, z.B. Fahrdienste.
Auch berichtet sie, dass zwar ein überwiegender Großteil an Menschen mit Lernschwierigkeiten sexuelle Erfahrungen hat, dies aber nur selten offenlegt.
Gleichzeitig fehlt hier oft Wissen über Geschlechtsverkehr, sexuell übertragbare Krankheiten, Schwangerschaft und Verhütung.
In der Konsequenz werden daher viel weniger HIV-Tests an Menschen mit Behinderungen durchgeführt.
Kinderwunsch
Die Vortragende arbeitet in einer Kinderwunschklinik und berichtet davon, dass nur sehr wenige Menschen mit Behinderungen ihre Klinik aufsuchen. Die größte Gruppe sind Menschen im Rollstuhl oder wenn es darum geht, etwaige genetische Untersuchungen durchzuführen.
Der Fokus liegt auf einer ganzheitlichen, barrierefreien Gesundheitsversorgung, die sowohl medizinische als auch psychosoziale Aspekte berücksichtigt. Themen wie Sexualaufklärung, der Zugang zu Verhütungsmethoden und der Umgang mit Sexualität werden ausführlich behandelt. Ziel ist es, Bewusstsein für die besondere Lebenssituation dieser Patient*innen zu schaffen, Diskriminierungen entgegenzuwirken und die Autonomie sowie das Recht auf Selbstbestimmung zu stärken.
Reiser stellt weiters die beiden Modelle der Elternassistenz und der begleiteten Elternschaft kurz vor.
Vorsorge
Nur 40% der Frauen in Österreich gehen zur Brustkrebsvorsorge und nur 31% hatten einen PAP-Abstrich zur Krebsvorsorge bei Gebärmutterhalskrebs.
Forderungen
Reiser schloss ihren Vortrag damit, dass sie flächendeckende Schulungen von medizinischem Personal für den Umgang und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen forderte. Gleichzeitig sieht sie auch die sexuelle Aufklärung von Menschen mit Behinderungen als wichtiges Ziel.
Service-Link zum Nachsehen und Nachhören bzw. zum Livestream
https://www.i-med.ac.at/diversitaet/Ringvorlesung.html
von Nicola Onome Sommer