UN-Berichterstatter Markus Schefer kritisiert mangelnde Fortschritte in der Inklusion
Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bleibt eine Herausforderung – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich. Der UN-Berichterstatter Markus Schefer warnt davor, dass gesellschaftliche Entwicklungen nicht nur den Schutz von Migrant*innen, sondern auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen gefährden. Was bedeutet das für Österreich?
Schefer ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel und Mitglied des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Ausschuss), wo er die Umsetzung der Konvention weltweit überwacht.
Getrennte Lebenswelten – auch in Österreich ein Problem
Schefer kritisiert, dass in vielen europäischen Ländern Menschen mit Behinderungen weiterhin in getrennten Lebenswelten leben. Schefer hebt hervor, dass Behinderung nicht allein durch medizinische Kriterien bestimmt werde, sondern vielmehr eine Frage der gleichberechtigten Ausübung von Menschenrechten sei. Entscheidend sei, ob Menschen mit Behinderung selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden können – etwa über ihre Wohnsituation oder ihren Tagesablauf. Dafür müsse sich das System anpassen, nicht die Menschen. Österreich steht hier vor ähnlichen Herausforderungen, wie Deutschland: Viele Menschen mit Behinderungen leben nach wie vor in Einrichtungen anstatt in selbstgewählten Wohnformen.
Bildung: Österreich hinkt hinterher
Einer der Hauptkritikpunkte des UN-Berichterstatters ist das Bildungssystem. Er verweist darauf, dass viele europäische Staaten, darunter Deutschland und Österreich, weiterhin auf Sonderschulen setzen, anstatt ein vollständig inklusives Bildungssystem zu etablieren. „(…) die Konvention fordert, dass man einen institutionellen Ansatz verfolgt und die Schulen insgesamt so strukturiert, dass sie inklusiv sind.“, sagt Schefer. Auch in Österreich existiert dieses Problem: Trotz zahlreicher Reformbestrebungen bleiben Sonderschulen ein fester Bestandteil des Bildungssystems in Österreich.
Arbeitsmarkt: Anpassung notwendig
In Bezug auf den Arbeitsmarkt sieht Schefer ebenfalls große Defizite. „Die Leute (Anm: Menschen mit Behinderungen) sollen fit gemacht werden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt, so wie er ist, bestehen können. Dabei sollte der Arbeitsmarkt sich an die Menschen anpassen, damit sie, so wie sie sind, daran teilhaben können.“, so Schefer.
Gesundheitsversorgung: Zugang und Selbstbestimmung
Ein weiteres Kernthema ist die Gesundheitsversorgung. Schefer betont, dass es nicht nur darum geht, ob Arztpraxen barrierefrei sind, sondern auch, ob Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt medizinische Entscheidungen treffen können. Hier verweist er explizit auf Österreichs Erwachsenenschutzrecht, das zwar theoretisch gute Regelungen getroffen hat, die in der Praxis aber daran scheitern, dass es in Österreich zu wenig unterstützende Maßnahmen gibt.
Schefer: „Es geht um die Herangehensweise. Österreich hat zum Beispiel ein Erwachsenenschutzrecht, das rechtlich grundsätzlich anders funktioniert. Anstatt eines Stellvertreters, der für Menschen entscheidet, bekommt man eine unterstützende Person zur Seite gestellt, die dabei hilft, den eigenen Willen zu formen und auszudrücken. Im Extremfall, wenn die Person ihren Willen nicht mehr ausdrücken kann, muss man so entscheiden, wie es dem mutmaßlichen Willen der Person am ehesten entsprechen würde. Das klingt nach Haarspalterei, aber es ist ein elementarer Unterschied. Allerdings: So gut das österreichische Recht ist, so schlecht wird es umgesetzt, weil die unterstützenden Maßnahmen nicht angeboten werden. Mit dem Ergebnis, dass die tatsächliche Situation heute sogar noch schlechter ist als unter den alten Regelungen.“
Mitbestimmung in der Gesetzgebung
Ein weiteres zentrales Problem ist laut Schefer die mangelnde Einbindung von Menschen mit Behinderungen in politische Entscheidungsprozesse. „Wenn es politisch opportun ist, findet vielleicht mal eine Anhörung von Betroffenenverbänden statt, sonst eher nicht.“, kritisiert er. Auch der Ausschuss griff diesen Punkt bei der Staatenprüfung Österreichs im August 2023 auf. Der Ausschuss zeigte sich besorgt darüber, dass es in Österreich weder auf Bundes- noch auf Länderebene strukturierte, gesetzlich verankerte Prozesse gibt, um Organisationen von Menschen mit Behinderungen eng zu konsultieren und aktiv in die Entwicklung und Umsetzung von Gesetzen und Politiken zur Umsetzung der Konvention einzubeziehen.
Fazit: Systemwechsel erforderlich
Schefers Analyse zeigt, dass viele Staaten, darunter Österreich, die UN-BRK nur unzureichend umsetzen. Schefer: „Die kommen nicht mit der Einstellung, dass ihr […]recht möglicherweise ein Grundsatzproblem hat, weil es Menschen entmündigt. Sie gehen eher davon aus, dass diese 18 Leute in Genf vielleicht nicht so recht begreifen, wie es im eigenen Land läuft, und erklären uns dann alle rechtlichen Details. Diese Details können den grundsätzlichen Mangel aber nicht beheben; es geht ums System.“
Schefer macht damit deutlich, dass viele Staaten zum einen unterschätzen, wie gut die Vereinten Nationen informiert sind. Vor allem aber fehlt oft das Verständnis dafür, dass es nicht an einzelne Gesetzen, sondern am System scheitert.
Solange sich das System nicht an die Bedürfnisse aller Menschen anpasst, bleibt echte Inklusion unerreichbar. Es braucht strukturelle Änderungen u.a. in den Bereichen Bildung, Arbeit, Gesundheit und Gesetzgebung, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen tatsächlich zu verbessern.
Service-Link
Artikel: Wenn Migration als Problem gilt, verändert das auch etwas für Menschen mit Behinderungen | taz.de
von Victoria Biber