Stellungnahme zum Regierungsprogramm 2025-2029: JETZT DAS RICHTIGE TUN. Für Österreich.
Der Österreichische Behindertenrat ist die gesetzlich verankerte Interessenvertretung der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen in Österreich. In ihm sind rund 85 Mitgliedsorganisationen organisiert. Auf Grund der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen verfügt der Österreichische Behindertenrat über eine einzigartige Expertise zu allen Fragen, welche Menschen mit Behinderungen betreffen.
Der Österreichische Behindertenrat erlaubt sich, diese Stellungnahme wie folgt auszuführen:
Zu den einzelnen Regelungen
Aus Verantwortung für die Zukunft
Wirtschaft und Arbeit (S. 20)
Der Lückenschluss bei der Mobilitätsunterstützung für Lehrlinge und AusbildungsFit-Teilnehmer*innen ist ein kleiner Anfang, aber beseitigt nicht die Ungerechtigkeit, dass viele Personen, die sich in Maßnahmen der Ausbildungspflicht bis 18 befinden, weiterhin kein TOP Jugendticket bekommen und daher in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Es bedarf daher jedenfalls einer Ausdehnung der Zielgruppe auf alle Personen, die eine Maßnahme zur Erfüllung der Ausbildungspflicht bis 18 besuchen.
Inflationsbekämpfung und Wohnen
Leistbares Wohnen (S. 58)
Bei der Durchforstung der Baustandards ist jedenfalls der Österreichische Behindertenrat (als gesetzlich legitimierter Dachverband der Menschen mit Behinderungen in Österreich) einzubeziehen. Sollte das nicht geschehen, droht sich das schon oftmals erlebte zu wiederholen, und werden vermutlich die Barrierefreiheitsstandards aufgrund von Kostenargumenten herabgesetzt. Dies würde im Übrigen auch dem auf S. 101 definierten Ziel barrierefreien Wohnbau zu fördern zuwiderlaufen.
Gesundheit, Pflege, Soziales & Arbeit
ARBEIT
Arbeitsmarkt (S. 95, 96)
Die Verbesserung der Schnittstellen zu anderen Politikfeldern wird begrüßt. So auch die ausreichende Finanzierung des AMS.
Bei der Regelung der Neu-Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung fehlt jedoch eine Ausnahmeregelung für Menschen mit Behinderungen, damit diese unbefristet geringfügig beschäftigt sein können. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich insb. daraus, dass sie deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Menschen ohne Behinderungen. Eine konsequente Anwendung des Diskriminierungsverbots gem Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG muss also dazu führen, dass auch für Menschen mit Behinderungen eine Ausnahmeregelung geschaffen wird.
SOZIALES
Sozialhilfe NEU (S. 98)
Wiewohl aufgrund der Formulierung im Regierungsprogramm unklar bleibt, ob die (erhöhte) Familienbeihilfe auch bei Menschen mit Behinderungen, die Sozialhilfe beziehen, künftig auf diese angerechnet werden soll, ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass dies zu einer massiven Verschlechterung der Situation von Menschen mit Behinderungen führen würde und ihre Armutsbetroffenheit massiv erhöhen würde.
In dem Zusammenhang sei auch angemerkt, dass der Erhöhungsbetrag bei der erhöhten Familienbeihilfe den Zweck hat, behinderungsbedingten Mehraufwand auszugleichen und daher einen ganz anderen Zweck als die „normale“ Familienbeihilfe hat. Daher scheint eine Anrechnung auf die Sozialhilfe aufgrund von Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG als nicht sachgerecht.
Rehabilitationsgeld/Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension/Altersteilzeit (S. 100)
Wie die Reform von Reha-Geld, Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension genau ausgestaltet werden soll, bleibt im Regierungsprogramm unklar. Jedenfalls wird angeregt, den Österreichischen Behindertenrat in die Ausgestaltung der Reform zu involvieren, um eine allf. zukünftige Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen zu verhindern.
Da das Konzept der Teilarbeitsfähigkeit (wie man in anderen europäischen Ländern gesehen hat) zu einer massiven Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen führt, wird dringend davon abgeraten, ein solches einzuführen. Es ist im Übrigen auch nicht konform mit der UN-BRK, die grundsätzlich jede Person als arbeitsfähig ansieht und sich lediglich die Frage stellt, welche Unterstützung die Person benötigt, um zu arbeiten. Außerdem wäre das Konzept der Teilarbeitsfähigkeit ein Rückschritt hinter die Errungenschaften der „Arbeitsfähigkeit bis 25 Jahren“, die ab 1.1.2024 mit einer Novelle des AlVG eingeführt wurde.
Die Einbeziehung vom AMS bei Verfahren betr. Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension scheint auf den ersten Blick als systemwidrig und besteht daher große Neugier danach, was hier gemeint ist.
Anerkennung von Arbeit in den Tagesstrukturen für Menschen mit Behinderungen (S. 102)
Die Evaluierung und Begleitung bestehender Pilotprojekte zu Inklusiver Arbeit (im Regierungsprogramm fälschlich als Lohn statt Taschengeld bezeichnet) wird sehr begrüßt.
Jedoch wurde leider nicht eine Regelfinanzierung der Pilotprojekte in das Regierungsprogramm aufgenommen und werden damit in spätestens 2 Jahren die beschränkten, momentan vorhandenen, Mitteln aufgebraucht sein.
Auch die Forcierung der Integration in den ersten Arbeitsmarkt wird begrüßt.
Die sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Menschen mit Behinderungen hingegen wäre nur ein Teilschritt und sollte Folge einer regulären Entlohnung sein.
Bei der Ausarbeitung eines Konzepts der Teilerwerbstätigkeit (soweit hier ein inklusives Arbeitszeitmodell gemeint ist) erklärt sich der Österreichische Behindertenrat gerne bereit, mitzuwirken.
Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft (S. 103)
Positiv wird auch die Weiterentwicklung der Persönlichen Assistenz mit dem Ziel eines bundeseinheitlichen Systems gesehen.
Nachteilig ist jedoch, dass die bestehende Harmonisierungsrichtlinie vom BMSGPK und eine allf. Regelfinanzierung nicht vom Regierungsprogramm aufgegriffen wurden. Stattdessen werden im Regierungsprogramm nur Teilaspekte (z.B. Berufsbild, klare Kompetenzen, usw.) aufgezählt, die entweder keiner Lösung bedürfen (weil sie bereits geregelt sind) oder nicht geregelt werden sollten, weil sie dem Grundgedanken der Persönlichen Assistenz widersprechen und die benötigte Flexibilität durch Überregulierung verunmöglichen.
Angemerkt sei noch, dass es nicht Arbeitsassistenz (das ist eine NEBA-Leistung), sondern Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz (PAA) heißt. Hier wurden Leistungen verwechselt.
Außerdem liegt die Zuständigkeit für PAA beim Bund und für Persönliche Assistenz in den sonstigen Lebensbereichen bei den Ländern und ist daher die vorgeschlagene Maßnahme der rechtlichen Vereinheitlichung (aus verfassungsrechtlicher Sicht) wohl kaum realisierbar. Viel eher sollte es darum gehen, dass gewisse Grundsätze für beides gelten.
Positiv wird auch die Evaluierung des ATF gesehen. Bei der Ausarbeitung des neuen Systems bietet der Österreichische Behindertenrat seine Expertise an.
Barrierefreiheit ausbauen (S. 103)
Weiters positiv bewertet wird der geplante Ausbau von Barrierefreiheit und die forcierte Umsetzung der UN-BRK. Der Österreichische Behindertenrat erinnert an dieser Stelle an den Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022-2030.
Für die Ausarbeitung einer De-Institutionalisierungsstrategie bietet der Österreichische Behindertenrat seine Expertise an.
Kinderrechte (S. 105)
Grundsätzlich ist es erfreulich, dass die UN-Konvention über die Rechte von Kindern im neuen Regierungsprogramm Erwähnung findet. So heißt es, dass die Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses geprüft und in Form der Implementierung von Maßnahmen auf diversen Ebenen, auch unter der Berücksichtigung von Kindern mit Behinderungen, umgesetzt werden sollen. Abgesehen davon, dass die Empfehlungen bereits vor fünf Jahren verabschiedet wurden und folglich keiner Prüfung mehr bedürfen sollten, braucht es hier mehr.
Es ist ein strukturierter Prozess zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Kindern unter Einbindung aller Ressorts und insbesondere der Bundesländer, sowie unter aktivem und wirksamem Einbezug von Kindern und Jugendlichen (mit Behinderungen) und den sie vertretenden Organisation aufzusetzen. Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, dass das lose Umsetzen einzelner Maßnahmen keinen langanhaltenden Mehrwert für den Schutz, die Förderung sowie die Gewährleistung von Menschenrechten hat.
GESUNDHEIT UND PFLEGE
Barrierefreiheit ausbauen (S. 109 f)
Der Ausbau von Gebärdensprachdolmetschung in Arztpraxen wird begrüßt.
Der Österreichische Behindertenrat fordert in dem Zusammenhang eine bundeseinheitliche Lösung zur Finanzierung barrierefreier Kommunikation (ÖGS, Schriftdolmetsch, unterstützte Kommunikation, Brailleschrift und einfache Sprache) für den Gesundheitsbereich.
Ausbau des niedergelassenen und ambulanten Versorgungsangebots (S. 109 f)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt den geplanten Ausbau spezialisierter Versorgungszentren/-netzwerke für chronische Krankheiten sowie psychosoziale Versorgung und seltene Erkrankungen sowie den geplanten Ausbau des Versorgungsangebotes für psychische Gesundheit. Dabei muss der Zugang für alle Menschen mit Behinderungen zu den Angeboten gewährleistet sein.
Die Festlegung einer zentralen Antrags-/Abwicklungsstelle „One-Stop-Shop“ zur optimalen Versorgung und Finanzierung von Hilfsmitteln wird vom Österreichischen Behindertenrat seit langem gefordert, weshalb die Aufnahme ins Regierungsprogramm sehr begrüßt wird.
Es sei angemerkt, dass ein „One-Stop-Shop“ Versorgung und Finanzierung von Hilfsmitteln schon mehrfach – bisher immer erfolglos – Einzug in Regierungsprogramme gefunden hatte. Der Österreichische Behindertenrat empfiehlt daher möglichst zeitnah mit der Konzeption zu beginnen, weil eine Umsetzung komplex ist.
Die Änderung der Zuständigkeit für die Abwicklung wird den Betroffenen zwar das Stellen des Ansuchens erheblich erleichtern; ohne, dass die gesetzlichen Ungleichbehandlungen einerseits wie die Behinderung erworben wurde (Arbeitsunfall, Freizeitunfall, von Geburt an) und andererseits den aktuellen Lebensumständen nach (im Arbeitsleben, pensioniert, in Ausbildung, …) behoben werden und hier eine vereinheitlichte Deckung gesetzlich verankert wird, löst dies die Probleme der Betroffenen in diesem Bereich jedoch nicht.
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt, dass der Ruf nach (mobilen) Pflegediensten gehört wurde und antizipiert, dass diese tatsächlich österreichweit und bedarfsgerecht angeboten werden, wobei speziell auf die Bedarfe der Pflegebedürftigen und deren Angehöriger einzugehen sein wird.
Das Zusammenlegen der Begutachtungsstellen alleine wird kaum zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen führen, daher sollte viel eher die Etablierung von multiprofessionellen Begutachtungen, bei denen auch das Umfeld einbezogen wird, vorangetrieben werden, da hier ein viel größeres Potential liegt, die Lebensrealität zu verbessern.
Versorgungssicherheit im Arzneimittel-Bereich (S. 113)
Es wird angesichts der vorherrschenden Medikamentenengpässe sehr begrüßt, dass Anreize für eine EU-Produktion und Diversifikation der Lieferketten geplant sind, um die Arzneimittelversorgung zu gewährleisten.
Investitionen in Langzeitpflege: Versorgung verbessern – gemeinsame Vorgehensweise aller Player (S. 115)
Die vorgesehene Entlastung von pflegenden Angehörigen wird sehr positiv und längst überfällig gesehen. So auch die Anhebung der Einkommensgrenzen für die Förderung der 24-Stunden-Betreuung und der Ausbau der Kurzzeit- und Übergangspflege.
Die Weiterentwicklung des Pflegegelds in Richtung ambulanter Pflege und damit die Abkehr vom Geldleistungssystem wird vehement abgelehnt.
Außerdem mahnt der Österreichische Behindertenrat davor, dass die Evaluierung der Mittelverwendung betreffend das Pflegegeld nicht dazu führen darf, dass dieses gekürzt und damit ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Pflegebedarf verunmöglicht wird.
Frauen, Staat, Gesellschafft, Internationales und EU
VERFASSUNG, MENSCHENRECHTE UND VERWALTUNG
Grund- und Menschenrechte (S. 124)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt die erneute Ankündigung zur Schaffung eines echten Österreichischen Nationalen Aktionsplans für Menschenrechte, der strategische Ziele für die Verbesserung der Grund-, Freiheits- und Menschenrechten unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft entwickelt.
Gleichzeitig ruft der Österreichische Behindertenrat an dieser Stelle die schleppende und teilweise bereits verfristete Umsetzung des NAP Behinderung II 2022–2030 in Erinnerung.
Bei der Schaffung des Aktionsplans Menschenrechte soll aus den Versäumnissen des NAP Behinderung II 2022–2030 gelernt werden und daher klare Strategien, Pläne zur Umsetzung festgeschriebener Ziele und ein deutliches Bekenntnis zur Finanzierung enthalten sein.
JUSTIZ UND RECHTSSTAAT
Justizreform (S. 126)
Positiv hervorzuheben ist, dass laut Regierungsprogramm die ausreichende, effektive und umfassende Erwachsenenschutzvertretung vor allem bei unterstützter Entscheidungsfindung sichergestellt werden soll. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der Handlungsempfehlungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen dringend geboten.
MEDIENSTANDORT ÖSTERREICH
Gesamtreform ORF (S. 130)
Das Regierungsprogramm enthält auch einen Punkt zur Gesamtreform des ORF, unter anderem zur Gremienreform unter dem Gesichtspunkt der Stärkung des Publikumsrats. Genauere Ausführungen zu einer Gremienreform, auch in Hinblick auf den Publikumsrat sind jedoch nicht zu finden. Das hier jedoch Handlungsbedarf durch den Gesetzgeber besteht, hatte der Verfassungsgerichtshof schon 2023 erkannt, da die bisherige Bestellungspraxis durch Bundeskanzler*in bzw. durch das für Medien zuständige Regierungsmitglied gegen das Bundesverfassungsgesetz Rundfunk verstoße.[1] Damit der Publikumsrats seiner Aufgabe, die Interessen der Hörer*innen und Zuschauer*innen auch unter der adäquaten Abbildung der gesellschaftlichen Gruppen zu wahren, nachkommen kann braucht es hier entsprechende Anpassungen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig ein direktes Nominierungsrecht für Mitgliedern des Publikumsrats durch gesetzlich anerkannte Interessensgruppen zu gewährleisten.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat als die in § 50 Abs. 1 Bundes-Behindertengesetz gesetzlich verankerte Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen ein direktes Nominierungsrecht für ein Mitglied des Publikumsrats zu erhalten. Nur so kann eine unabhängige und repräsentative Vertretung der Menschen mit Behinderungen im Publikumsrat durch Menschen mit Behinderungen gewährleistet werden.
FRAUEN
Gewaltschutz (S. 135)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt, dass die neue Bundesregierung die dringende Notwendigkeit erkannt hat, im Bereich des Gewaltschutzes einen speziellen Fokus auf die Gruppe der Frauen mit Behinderungen zu legen. Frauen mit Behinderungen sind wesentlich häufiger als Frauen ohne Behinderungen von Gewalt, insbesondere sexueller und häuslicher Gewalt, betroffen.
Gewaltschutz ist nur zielführend, wenn er an wirksame Maßnahmen und umfassende Forschung gekoppelt ist. Er muss daher mit umfassender De-Institutionalisierung, Bekämpfung von Abhängigkeitsverhältnissen, Aufklärung über sexuelle Gesundheit und Selbstbestimmung, barrierefreien Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen, einer Ent-Tabuisierung der Sexualität von Frauen mit Behinderungen und der Erhebung von verlässlichen, umfassenden, disaggregierten Daten über Frauen mit Behinderungen einher gehen.
Die im Regierungsprogramm auf S. 135 erwähnten GREVIO-Empfehlungen gehen auf Frauen mit Behinderungen ein und liefern weitere konkrete Anhaltspunkte.
Behinderung als Querschnittsmaterie in der Frauenpolitik
Daran, dass Frauen mit Behinderungen im gesamten Regierungsprogramm kaum erwähnt werden, wird deutlich, dass das Regierungsprogramm die Bedeutung der Intersektion von Geschlecht und Behinderung verkennt. Das Fehlen einer Behindertenperspektive in der Frauengesetzgebung in Verbindung mit dem Fehlen einer transparenten und umfassenden Geschlechterperspektive in der Behindertengesetzgebung und ihrer Durchsetzung verschärfen die Herausforderungen für Frauen mit Behinderungen auf allen Ebenen.
Der Österreichische Behindertenrat fordert daher, dass entsprechend den abschließenden Bemerkungen des UN-Frauenrechtskomitees Frauen und Mädchen mit Behinderungen in alle Maßnahmen und Programme zur Gleichstellung der Geschlechter einbezogen werden.[2]
Regionen, Mobilität, Klima, Landwirtschaft, Sport
KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ
Klimapolitik (S. 153)
Der Österreichische Behindertenrat nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass im aktuellen Regierungsprogramm zum Thema Klima- und Umweltschutz die Belange von Menschen mit Behinderungen keinerlei Berücksichtigung finden. Das Bekenntnis zu einer sozial gerechten und umfassenden Klimaschutzpolitik im Einklang mit den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen (S. 153) ist zwar ein begrüßenswerter erster Schritt, doch es bedarf konkreter Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen im Klimaschutz effektiv zu berücksichtigen. Diese Unterlassung ist besonders alarmierend, da Menschen mit Behinderungen überproportional von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. Sie verdeutlicht erneut, dass Menschen mit Behinderungen weiterhin systematisch von entscheidenden Prozessen im Zusammenhang mit dem Klimawandel ausgeschlossen werden.
Die Auswirkungen des Klimawandels stellen für Menschen mit Behinderungen in Österreich gravierende Herausforderungen dar, sei es im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Notunterkünften, Evakuierungsmaßnahmen oder die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten. Extreme Wetterbedingungen, wie etwa Hitzewellen, können zudem eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder einer Grunderkrankung führen. Umso wichtiger ist es, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen frühzeitig und systematisch in die Planung und Umsetzung von Klimaschutz- und Klimaanpassungsstrategien einbezogen werden.
Besonders negativ hervorzuheben ist zudem, dass zum Thema Klima- und Umweltschutz weder Frauen im Allgemeinen noch Frauen mit Behinderungen im Speziellen berücksichtigt werden. Studien belegen, dass Frauen während und nach extremen Wettereignissen einem erhöhten Risiko sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind.[3]
Angesichts der zunehmenden Häufigkeit von extremen Wetterereignissen und Naturkatastrophen ist es außerdem bedauerlich, dass die Notwendigkeit barrierefreier Informationen über den Klimawandel im Regierungsprogramm keine Berücksichtigung fand.
SPORT
Intensivierung und Förderung des Behindertensports (S. 163)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt die vorgestellten konkreten Maßnahmen zur Intensivierung und Förderung des Behindertensports. Es ist von großer Bedeutung, dass Strukturen für den Behindertensport nachhaltig gestärkt werden, um Menschen mit Behinderungen im Sport eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Ebenfalls begrüßt werden die Maßnahmen zur Intensivierung und Förderung der Inklusion des Behindertensports.
Allerdings muss die Umsetzung dieser Maßnahmen genau beobachtet werden, insbesondere im Hinblick auf die notwendigen finanziellen Mittel. Nur wenn ausreichend Mittel bereitgestellt werden, können diese Vorhaben tatsächlich erfolgreich und nachhaltig realisiert werden.
MOBILITÄT UND VERKEHR
Barrierefreiheit (S. 165)
Das Bekenntnis zur Barrierefreiheit betreffend die Verkehrsinfrastruktur wird sehr begrüßt. Gerade betreffend den immer wichtiger werdenden Mikro-ÖV ist jedoch anzumerken, dass auch dieser barrierefrei erbracht werden muss (von der Buchung bis zum Fahrzeug).
Bildung, Innovation und Zukunft
Im Bereich der Elementarpädagogik ist die rasche Einführung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres vorgesehen. Für die dafür, aber auch so schon, dringend benötigten Elementarpädagog*innen will der Bund ab 2026 ein zusätzliches Ressourcenpaket für eine Qualitäts- und Ausbau-Offensive im Bereich der Elementarpädagogik zur Verfügung stellen. Zudem soll es einen Stufenplan zur schrittweisen Umsetzung hin zu einer Garantie auf Vermittlung eines ganztägigen und ganzjährigen Kindergartenplatzes geben.
Auffallend ist hierbei einerseits, dass sich keine Angaben über den budgetären Umfang des Ressourcenpakets finden lassen. Dies lässt vor allem angesichts des allgegenwärtigen Konsolidierungsbedarfs keine großen Hoffnungen auf eine ausreichende budgetäre Bedeckung, auch hinsichtlich der Behebung des pädagogischen Fachkräftemangels, zu. Andererseits fällt auf, dass das Regierungsprogramm nicht auf den eklatanten Mangel an Kindergartenplätzen für Kinder mit Behinderungen, insbesondere für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf, eingeht. Allein in Wien warten mehr als 1000 Kinder mit Behinderungen auf einen Kindergartenplatz.[4]
Weiters steht die Durchführung des zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres ab 2027 unter Budgetvorbehalt und wird nicht erwähnt, die jetzige Ausnahmeregelung für Kinder mit Behinderungen (die ein Absehen vom verpflichtenden Kindergartenjahr zulässt) aus der einschlägigen 15a-Vereinbarung zu streichen. Es besteht daher die große Befürchtung, dass sich die jetzige Situation, dass Kinder mit Behinderungen keinen Zugang zu institutionellen Einrichtungen der frühkindlichen Bildung erhalten, weiter fortschreibt.
Deshalb fordert der Österreichische Behindertenrat die Ausnahmeregelung vom verpflichtenden Kindergartenjahr für Kinder mit Behinderungen zu streichen und sicherzustellen, dass es keine solche Ausnahmeregel für ein etwaiges zweites verpflichtendes Kindergartenjahr geben wird. Weiters fordert der Österreichische Behindertenrat den Ausbau von, für die Eltern kostenfreien, Angeboten zu frühkindlicher Bildung von Kindern (mit Behinderungen) inklusive bedarfsgerechter Unterstützungsmaßnahmen, damit jedes Kind mit Behinderungen einen Kindergartenplatz bekommt.
Im Unterkapitel des Regierungsprogramms zur Inklusion in der Schulischen Bildung zeigt bereits der erste Punkt: „Die Sonderschulen und FIDS (Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik) werden weiterentwickelt […]“, dass es hier um alles, nur nicht um tatsächliche Inklusion bzw. inklusive Bildung im Sinne der UN-BRK geht. Sonderschulen können per Definition nicht Teil eines inklusiven Bildungssystems sein. Die Ergänzung des Angebots der Sonderschulen durch „umgekehrte Integration“ (Kinder ohne Behinderung besuchen Integrationsklassen und lernen dort gemeinsam mit Kindern mit Behinderungen) zeigt nur einmal mehr, dass in weiten Teilen der Politik (und auch der Gesellschaft) immer noch nicht verstanden wurde, was inklusive Bildung bedeutet. Zudem bindet ein solches Vorgehen Ressourcen, die – wie vom UN-Fachausschuss gefordert[5] – für eine bundesweite Strategie zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen eingesetzt werden müssten.
Daher fordert der Österreichische Behindertenrat, dass von den Bundesländern und dem Bund koordinierte Etappenpläne zum Übergang vom segregierenden Schulsystem hin zu einem inklusiven Bildungssystem ohne Sonderformen von Bildungseinrichtungen beschlossen und abgearbeitet werden. Diese Etappenpläne bedürfen einer systematischen Prozesssteuerung und müssen verbindliche Zeitpläne beinhalten.
Dass die Erkenntnisse der 2019 eingestellten Modellregionen in ein österreichweites inklusives Bildungssystem einfließen sollen, ist positiv zu bewerten. Jedoch ist diese Maßnahme nicht mit der Weiterentwicklung von Sonderschulen vereinbar.
Die Einführung einer eigenständigen Lehramtsausbildung für Inklusion und Sonderpädagogik konterkariert die vom ersten Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012-2020 angestoßene Entwicklung der sogenannten „Lehrer*innenbildung – NEU“. Damals wurde Inklusive Pädagogik als verbindlicher Inhalt für alle Lehramtsstudierenden eingeführt. Es fand eine strategische Abkehr von der Idee einer Ausbildung für eine bestimmte Schulform statt, die es zum Ziel hatte Lehrer*innen in allen Schulformen zu Inklusiver Pädagogik zu befähigen. Der Österreichische Behindertenrat lehnt daher die Einführung einer solchen eigenständigen Lehramtsausbildung ab.
Als äußerst positiv hingegen ist die Ankündigung der Einführung eines Rechtsanspruchs auf ein 11. und 12. Schuljahr für Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) sowie die Entwicklung entsprechender Lehrpläne zu bewerten. Der Rechtsanspruch auf das 11. und 12. Schuljahr stellt eine langjährige Forderung dar, die rein legistisch leicht umzusetzen ist.
Die entscheidende Frage diesbezüglich ist jedoch, wie ein solcher Rechtsanspruch in der Praxis dann auch gelebt wird. Hier braucht es im Sinne einer diskriminierungsfreien und chancengleichen Teilhabe am allgemeinen Bildungssystem mehr als nur die Möglichkeit zwei Jahre länger im Schulsystem verbleiben zu können. Es braucht also zusätzlich zum Rechtsanspruch die entsprechenden inklusiven Bildungssettings, einschließlich bedarfsgerechter Unterstützungsleistungen und Angebote zur Nachmittagsbetreuung – dies alles an der Stammschule – damit tatsächlich von Gleichberechtigung und Chancengleichheit die Rede sein kann. Bei der Entwicklung dieser inklusiven Bildungssettings bzw. von entsprechenden Lehrplänen bietet der Österreichische Behindertenrat seine Expertise an.
Zu befürworten ist des Weiteren die Neukonzipierung des SPFs inklusive bedarfsgerechte Ausstattung – wobei nicht klar ist, was darunter genau zu verstehen ist – sowie die Anhebung der Deckelung der sonderpädagogischen Förderung von 2,7 auf 4,5 Prozent. Betreffend der Neukonzipierung des SPF ist es unerlässlich, dass hierbei auf die Ergebnisse der Studie „Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich“[6] aus dem Jahr 2023 zurückgegriffen wird und der Österreichische Behindertenrat vollumfänglich einbezogen wird.
Was im Kapitel zu Bildung im Regierungsprogramm in Bezug auf Menschen mit Behinderungen komplett fehlt, sind Ausführungen zur Erwachsenenbildung und Wissenschaft bzw. Hochschulbildung. Auch finden die notwendigen Voraussetzungen – Stichwort Barrierefreiheit – für eine gleichberechtigte Teilhabe am Bildungswesen keine Erwähnung, z.B. die Österreichische Gebärdensprache, Schriftdolmetsch und Unterstützte Kommunikation. In diesem Zusammenhang verweist der Österreichische Behindertenrat auf sein aktuelles Positionspapier und die darin enthaltenen Forderungen zum Thema inklusive Bildung.[7]
DIGITALISIERUNG
Digitale Kompetenzen stärken (S. 179)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt die wachsende Bedeutung digitaler Kompetenzen und unterstützt ihre gezielte Verankerung in allen Bildungsbereichen – vom Kindergarten über Schule, berufliche Bildung, den tertiären Bereich bis zu zur Erwachsenenbildung.
Es ist allgemein bekannt, dass der Mangel an digitalen Kompetenzen oder der eingeschränkte Zugang zu Technologie für Menschen mit Behinderungen erhebliche Hindernisse darstellen können. Ursächlich dafür sind oft geringere Bildungsangebote, ein erhöhtes Armutsrisiko und der Mangel an Bewusstsein. Ohne gezielte Maßnahmen könnten diese Faktoren weiterhin entscheidende Barrieren für die Teilhabe an plattformbasierter Arbeit bleiben.[8] Es ist daher von zentraler Bedeutung, dass hinsichtlich der Aus- und Fortbildung von digitalen Kompetenzen auch individuelle Lösungen für Menschen mit Behinderungen angeboten werden. Spezifische Schulungen zur Förderung digitaler Kompetenzen müssen barrierefrei zugänglich sein, um eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten.
ID Austria ausbauen (S. 179)
Der Österreichische Behindertenrat begrüßt die geplante Erweiterung von ID Austria als wichtigen Schritt zur Förderung digitaler Partizipation. Angemerkt sei, dass jeder Prozess zur Etablierung eines neuen Angebots für Bürger*innen so konzipiert werden muss, dass das Produkt bzw. Angebot von Anfang an barrierefrei nutz- und bedienbar ist.
In dem Zusammenhang sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Erleichterung und Ermöglichung digitaler Partizipation keinesfalls die umfassenden Bemühungen ersetzen darf, physische, kommunikative, soziale und wirtschaftliche Barrieren zu beseitigen. Vielmehr stellt die Forderung nach der Förderung digitaler Mobilität eine zusätzliche Komponente zur Schaffung umfassender Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen dar.
Dementsprechend wird das Bekenntnis im Regierungsprogramm, den Zugang zur Verwaltung für alle Bürger*innen auch außerhalb des digitalen Bereichs sicherzustellen, sowie die Gewährleistung der Wahlfreiheit für analoge Lösungen sehr begrüßt.
Zugangsmöglichkeiten ausbauen, Chancen sichern und Wahlfreiheit für analoge Lösungen sichern (S. 180)
Positiv hervorzuheben ist zudem das klare Bekenntnis zur Umsetzung der UN-BRK, die Förderung von Web Accessibility sowie die Ausweitung von Angeboten in einfacher Sprache. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hinzuweisen. Dort wird betont, dass alle Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen den geltenden Barrierefreiheitsstandards entsprechen müssen[9] – ein Aspekt, der besonders in Zukunft konsequent berücksichtigt werden muss.
Mit besten Grüßen
Präsident Klaus Widl
Verweise
[1] Vgl. VfGH-Erkenntnis: G 215/2022-26, Para. 113; VfGH-Erkenntnis_G_215_2022_vom_5._Oktober_2023.pdf; letzter Zugriff: 04.03.2025.
[2] CEDAW/C/AUT/CO/9, 13 (41b)
[3] Human Rights Council, Analytical study on gender-responsive climate action for the full and effective enjoyment of the rights of women, A/HRC/41/26 (2019), para 17.
[4] Vgl. https://www.derstandard.at/story/3000000243924/warten-auf-kindergarten-wien-setzt-schritte-zur-inklusion-von-kindern-mit-behinderungen; letzter Zugriff: 05.03.2024.
[5] CRPD/C/AUT/CO/2-3 (58a).
[6] Siehe https://www.bmbwf.gv.at/dam/jcr:5e6b7a7b-606a-448e-b0ca-07a84f419b4d/spf_eval.pdf; letzter Zugriff: 06.03.2025.
[7] Siehe https://www.behindertenrat.at/wp-content/uploads/2023/06/Positionspapier_2024_Oesterreichischer-Behindertenrat.pdf, S. 12-13; letzter Zugriff: 06.03.2025.
[8] Abschlussbericht Auswirkungen der Digitalisierung auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt, BMASGK 2019, S. 67.
[9] CRPD/C/AUT/CO/2-3 (52a).
Service-Links
Regierungsprogramm 2025-2029: JETZT DAS RICHTIGE TUN. Für Österreich. (PDF)