Interview mit FPÖ-Spitzenkandidat Herbert Kickl zu sozial- und behindertenpolitischen Fragen im Vorfeld der Nationalratswahl 2024
14. Juni 2024
Was bedeutet Inklusion für Sie und worin sehen Sie in Ihrer Arbeit als Politiker den größten Handlungsbedarf, um Inklusion, wie sie auch in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt ist, umzusetzen?
Kickl: Die möglichst vollwertige Teilnahme in allen Lebensbereichen und kein Unterschied zu demjenigen, der keine Behinderung hat, muss das politische Ziel sein. Das ist unser Ziel, diesem Aspekt in unserer Arbeit eine verstärkte Aufmerksamkeit zu geben im Zusammenhang mit einer Sozialoffensive, die es in diesem Land braucht. Es muss die Möglichkeit bestehen – dahin würden wir versuchen, unsere Aktivitäten auch zu entwickeln – dass wir ein ordentliches Fundament im Bereich der Bildung auch für Menschen legen können, die es nicht so leicht haben, die man quasi nicht in den normalen Schulbetrieb reinbringen kann. Oder wenn man das kann, dann mit einer bestimmten Unterstützung, Assistenzmöglichkeiten usw. Die Inklusionskomponente spannt sich von der Bildung, Ausbildung über die Berufsausbildung, die Berufsausübung durch den gesamten Bereich. Es ist überall viel zu tun.
Sie kennen sicher den Inklusionsfonds.
Kickl: Man hat es sträflich vernachlässigt, im Rahmen des Finanzausgleichs einen solchen zu verhandeln. Dieser Inklusionsfonds ist bei uns auf der Agenda. Unser Vorschlag geht in die Richtung, dass wir diesen mit 500 Mio. Euro pro Jahr dotieren.
Haben Sie auf Ihrer Bundesliste, Landesliste, Regionalliste selbst betroffene Menschen mit Behinderung?
Kickl: Mir fällt als erster Norbert Hofer ein.
Wie sieht es mit Ihrem Wahlprogramm und der Wahlwerbung aus? Werden diese barrierefrei zur Verfügung gestellt?
Kickl: Da bin ich froh, dass wir miteinander reden, weil mir das die Gelegenheit gibt, auch das eine oder andere, was Ihnen wichtig ist, auch mitaufzunehmen. Wir sind gerade in der Endredaktion. Und da wird das natürlich eine Rolle spielen, gar keine Frage.
Wir hatten letzten Sommer die zweite UN-Staatenprüfung in Genf. Die Handlungsempfehlungen wurden seit der letzten Staatenprüfung von 8 auf 17 Seiten ausgedehnt. Da war ganz klar, was Thema war: Bildung, Barrierefreiheit, Föderalismus usw. Welche Schritte würden Sie setzen, wenn Sie Regierungsverantwortung hätten, um zu einem strukturierten Prozess der Umsetzung zu kommen?
Kickl: Bestimmte Dinge muss man zur Chefsache machen, vor allem Dinge, wo jahrelang nichts weitergegangen ist. Das wäre ein konkretes Angebot, wenn uns das gelingt, dass wir in Regierungsverhandlungen kommen, diese Agenda auch zur Chefsache zu machen.
Wie würden Sie mit der weiteren Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Behinderung umgehen, wenn Sie in Regierungsverantwortung kommen?
Kickl: Ich würde mich mit Ihnen konsultieren, Sie sind die Interessenvertretung. Wir wollen nicht Interessenpolitik an denen, um die es geht, vorbeimachen. Und diejenigen, die am nächsten dran sind, sollten als erste gehört werden.
Das Hauptproblem ist, dass man ohne budgetäre Bedeckung hineinschreiben kann, was man will, aber wichtige Maßnahmen nicht umgesetzt werden können.
Kickl: Eine neue Regierungsbeteiligung oder Regierungsbildung ist immer die Chance, neue budgetäre Schwerpunkte zu setzen. Deswegen ist jetzt für diese Dinge ein Zeitfenster offen.
Das heißt, wenn Sie in der Regierungsverantwortung sind, würden Sie das mit uns gemeinsam, dem Österreichischen Behindertenrat, nochmal evaluieren.
Kickl: Wir würden das auf jeden Fall mit in die Regierungsverhandlungen mit hineinnehmen.
Inklusive Bildung ist wichtig und wesentlich, weil Bildung für die gesellschaftliche Entwicklung wichtig ist. Der UN-Fachausschuss empfiehlt, den Ausbau von Sonderschulen unverzüglich zu stoppen und entsprechende Ressourcen in das Regelschulsystem zu überführen. Wie stehen Sie dazu?
Kickl: Sonderschulen ersatzlos zu streichen, halte ich nicht für eine gute Idee. Was wir uns überlegt haben, nennt sich umgekehrte Inklusion, dass man Sonderschulen auch die Möglichkeit gibt, Zeugnisse wie Mittelschulzeugnisse auszustellen, um eine integrierende Komponente ins Spiel zu bringen. Es wird immer auch Fälle geben, für die möglicherweise die andere und individuelle Betreuung im Sonderschulmodus die bessere Variante ist. Warum entweder das eine oder das andere, wenn durchaus ein Modell denkbar ist, wo man beides haben kann und man dann die Entscheidung auf Basis des wirklichen, individuellen Bedürfnisses des Kindes trifft?
Was ist Ihre Meinung zu einem Rechtsanspruch auf ein 11. und 12. Schuljahr an der Stammschule?
Kickl: Das ist, glaube ich, eine gute Idee. Wir haben in Niederösterreich mit unserer Regierungsbeteiligung zumindest einen Schritt in diese Richtung gemacht mit der Möglichkeit, ein 11. und 12. Schuljahr dort anzuhängen. So gesehen ist Niederösterreich ein Modellfall, an dem man sich orientieren könnte. Das würden wir übernehmen.
Ein weiterer Kritikpunkt bei der Staatenprüfung war neben dem Föderalismus die De-Institutionalisierung. Ein Schritt, um hier weiterzukommen, wäre, allen Menschen, die diese brauchen, egal, welche Behinderungsart, umfassende Persönliche Assistenz zu ermöglichen. Da gibt es nun eine Richtlinie zur Harmonisierung. Wie würden Sie sich für eine nachhaltige Regelfinanzierung einsetzen?
Kickl: Man wird umverteilen müssen in bestimmten Bereichen. Ich muss in der Politik so wie in jedem Haushalt Prioritäten setzen. Wo ist es jetzt sinnvoll, wo wird es gebraucht, wo ist es eine Zukunftsinvestition und wo muss ich Abstriche machen?
Menschen mit Behinderungen sind deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen, haben es schwerer am Arbeitsmarkt. Die Erwerbsquote ist deutlich niedriger, weil viele schaffen es gar nicht auf den Arbeitsmarkt, etwa jene in den Werkstätten. Wo würden Sie etwas ändern, wenn Sie in der Machtposition sind?
Kickl: Das ist aus meiner Sicht eine klaffende Wunde, die man als allererstes schließen sollte. Und dann spielen auch die Frage der Assistenz im Zusammenhang mit der Ausbildung und am Arbeitsplatz sowie auch Faktoren rund um den Themenbereich Arbeit eine Rolle, zum Beispiel der Faktor Mobilität.
Wie stehen Sie zur Ausgleichstaxe?
Kickl: Ich kenne Ihr Modell, Sie wollen an der Lohnnebenkostenschraube drehen. Da bin ich auf der Linie, und da hat sich bei uns nichts geändert, dass man das progressiv macht. Bitte bei den Kleinen wirklich aufpassen! Die haben es schwer genug. Wo Unternehmen sich das leisten können, weil sie eine bestimmte Größe haben, dass man da entsprechend auch nach oben geht, dass man es progressiv gestaltet.
Nur drei Prozent der österreichischen Betriebe zahlen Ausgleichstaxe, weil der Einstieg bei 25 Dienstnehmer*innen beginnt. Wir wollen weg von der Strafzahlung und ein Anreizsystem schaffen.
Herbert Kickl: Aber wenn Sie sagen: Da müssen wir arbeitgeberseitig bei den Nebenkosten was drauf tun, dann ist das in der Situation, wo wir uns jetzt befinden bei den Lohnnebenkosten insgesamt und auch im internationalen Wettbewerb, ein schwieriges Unterfangen.
Das ist uns total bewusst. Das wollen wir nicht, und wir wollen vor allem auch Klein- und Mittelbetriebe nicht belasten. Wenn man die Lohnnebenkosten nicht erhöhen will, kann man über die steuerliche Seite ansetzen.
Kickl: Was ist denn der effizienteste Weg abseits dieser ganzen technischen Steuerungsinstrumente? Das ist immer das gute Vorbild und das öffentliche Bewusstsein. Und wenn du dort ein paar hast, die ihr Modell erklären, präsentieren und dafür werben, dann werden dem andere nachfolgen, weil sie unabhängig von dem, ob etwas zu zahlen oder zu holen ist, das aus der übergeordneten Überlegung her in Angriff nehmen. Da sehe ich die Politik gefordert, entsprechend zu unterstützen.
Ein dritter Punkt, den wir immer wieder auch merken im Kontakt mit Personen, ist, dass es Menschen mit Behinderungen gibt, die aufgrund ihrer Behinderung nicht Vollzeit arbeiten können. Welche zwei Möglichkeiten haben wir momentan? Entweder – wenn der Arbeitgeber darauf einsteigt – reduzieren sie ihre Stunden so, dass sie nicht mehr davon leben können, weil bei 20 Stunden muss es schon ein sehr qualifizierter Job sein, dass man davon leben kann. Die zweite Variante: Sie bleiben auf den hohen Stunden und gehen in regelmäßigen Abständen in Langzeitkrankenstände. Wir hätten die Idee – und da würde ich gerne wisse, was Sie davon halten – dass man hier ein inklusives Arbeitszeitmodell ähnlich der Altersteilzeit macht, wo man sich im Vorfeld anschaut, welches Zeitausmaß die Person behinderungsbedingt arbeiten kann. Dafür bezahlt der Arbeitgeber den Lohn. Und der Rest auf die Vollzeit wird von der öffentlichen Hand gestützt, damit wir nicht ständig in dieser Existenzangst drinnen sind.
Kickl: Das ist ein interessantes Modell. Es wäre interessant, von der Größenordnung her zu schätzen, wie viele Personen in dieses Modell fallen würden.
Wenn wir alle Menschen mit Behinderungen nehmen, werden wir in einem ersten Schritt nicht einschätzen können, wie viele das sind. Wenn wir das einmal bei den begünstigt behinderten Personen probieren, das sind 100.000 Menschen, von denen 50.000 am Arbeitsmarkt sind, haben wir bereits eine kleinere Grundgröße. Dann könnte man das mit einem Pilotprojekt antesten und herausfinden, um wie viele Personen es sich handelt und wie es wirkt.
Kickl: Das klingt interessant, klingt fair.
Welche konkreten Maßnahmen würden Sie setzen, um Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten, chancengleichen Zugang zum Gesundheitssystem zu ermöglichen?
Kickl: Die medizinische Versorgung geht weit über diese Gruppe hinaus. Aber natürlich wird es notwendig sein, über den Zusammenhang mit neu entstehenden Primärversorgungszentren und Ordinationen diesen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Und man wird wohl etwas tun müssen bei der vorhandenen Struktur, um barrierefreien Zugang zu ermöglichen. Überall wird es nicht gelingen, aber überall dort, wo etwas Neues entsteht und wo was Neues hergerichtet wird, müsste das von Anfang an mitgedacht werden.
Das heißt, Sie sind dafür, dass das auch regelkonform in die Ausschreibungen hineinkommt?
Kickl: Gescheit, ja. Das war mir gar nicht bewusst, dass das gar nicht drinnen ist bei einer Ausschreibung.
Wie Sie wissen, sind wir da im Selbstverwaltungsbereich der Sozialversicherungsträger. Wären Sie auch bereit, hier gesetzliche Maßnahmen zu treffen?
Kickl: Ich bin in manchen Bereichen sehr skeptisch, was die Selbstverwaltung betrifft, weil sie oft keine Verwaltung, sondern eine Versorgung ist. Wenn wir uns die Frage stellen, wo große Reibungsverluste entstehen, bin ich leider im Gesundheitsbereich bei dieser Selbstverwaltung angekommen. Die Selbstverwaltung ist für mich nicht in allen Bereichen der Weisheit letzter Schluss.
Vielen Dank für die Möglichkeit des Gesprächs.