Interview mit GRÜNEN-Spitzenkandidat Werner Kogler zu sozial- und behindertenpolitischen Fragen im Vorfeld der Nationalratswahl 2024
15. Juli 2024
Österreichischer Behindertenrat: Was bedeutet Inklusion für Sie und worin sehen Sie in Ihrer Arbeit als Politiker den größten Handlungsbedarf?
Kogler: Inklusion bedeutet, in möglichst allen oder optimalerweise in allen Lebensbereichen die Chancen und die Teilhabe gemeinsam zu ermöglichen. Im Bereich Wohnen kann man das am besten nachvollziehen, im gemeinsamen Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen. Wie ich meinen Tagesablauf gestalte, wo und mit wem ich wohne, sind elementare Fragen. Wenn wir stark auf Institutionen wie Heime angewiesen sind, ist das halt nicht so gegeben. Man muss die UN‑Behindertenrechtskonvention als echte Guideline hernehmen. Sie ist eine Verpflichtung und keine Freiwilligenveranstaltung.
Den von uns geforderten Inklusionsfonds kennen Sie ja. Werden sie ihn unterstützen?
Kogler: Ich werde den Inklusionsfonds unterstützen, um einen realpolitischen Schritt zu setzen. Man kann damit ein bisschen das Manko ausgleichen, dass wir im Bereich Menschen mit Behinderung föderal organisiert sind. Wir haben das in vielen Bereichen, teilweise sogar Mischkompetenzen. Es wäre einerseits eine Verfassungsänderung zur Kompetenzbereinigung gut, aber realpolitisch betrachtet ist ein Inklusionsfonds ein guter Weg einen Übergang zu schaffen, weil man auf die Art und Weise schneller vorankommt, die Standards zu vereinheitlichen. Ich habe mir noch keine finalen Gedanken darüber gemacht, was man alles aus einem Fonds heraus bezahlt oder ob es nicht ohnehin als Verpflichtung für die jeweiligen Behörden oder Budgetkompetenten oder auszahlenden Stellen kommt. Die Fond-Konstruktion ist aber geeignet, das föderale Dilemma auszugleichen.
Wie viele Menschen mit Behinderungen sind auf Ihrer Wahlliste? Wird das Wahlprogramm und die Wahlwerbung auch in barrierefreien Formaten (leichter lesen, ÖGS, barrierefreie PDFs) verfügbar sein?
Kogler: Barbara Sima-Ruml steht an der 11. Stelle der Bundesliste. Sie ist wirklich toll unterwegs, auf der TU Graz oder auch auf der FH mit entsprechender Kompetenz, hält Fachvorträge zu barrierefreiem Bauen. Wir nutzen vermehrt einfache Sprache. An den technischen Lesbarkeiten wird noch gearbeitet. Wir entwickeln uns da von Mal zu Mal weiter, aber die finale Umsetzung kann ich noch nicht genau prognostizieren. Barrierefreiheit war bei uns immer schon Thema. Und wehe, es war mal nicht so, dann ist gleich die ehemalige Grüne Behindertensprecherin Theresia Haidlmayr ums Eck geschossen. Denn sie war hartnäckig und hat immer wieder auf Barrierefreiheit hingewiesen. Und deshalb bin ich froh, dass wir mit Barbara Sima-Ruml hier wieder anschließen können. Gebärdensprachdolmetsch gibt es schon lange bei uns, das wird konsequent fortgesetzt und hat schon eine gewisse Selbstverständlichkeit. Jedenfalls haben wir hier einige Angebote: Untertitel, barrierefreundliche Webseiten u.v.m.
Letzten Sommer fand in Genf die Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-BRK statt. Ergebnis sind die Handlungsempfehlungen des UN-Fachausschusses an Österreich. Bisher fand noch kein strukturierter Prozess zur Umsetzung der Handlungsempfehlungen in Österreich statt. Welche Schritte werden Sie unter Beteiligung aller Gebietskörperschaft (Bund, Länder und Gemeinden) unternehmen, um eine strukturierte Umsetzung zu gewährleisten?
Kogler: Ich finde insbesondere den Kritikpunkt der Zersplitterung und die Gefahr, die durch einen falschen Föderalismus resultiert, wichtig. Die Kompetenzbereinigung ist ein größeres Vorhaben, weil diese in mehreren Themenfeldern erfolgen muss. Es gibt viele Verflechtungen: im Pflegebereich, im Gesundheitsbereich, im Behindertenbereich und im Bildungsbereich. Das ist ein heftiger Punkt, aber den kann man versuchen als Bundesregierung auszutarieren. Oder wir gehen in einen größeren Verfassungs- und Kompetenzkonvent. Von mir aus können wir den Ländern in manchen Bereichen mehr Kompetenzen geben. Aber nicht immer diese ewigen Misch-Geschichten, das muss einmal geklärt werden. Was mir aus diesem Reporting nähergegangen ist, ist die Frage der Bildung, vor allem der schulischen. Aber in Wahrheit muss man von der Elementarpädagogik bis zur Uni denken.
Der UN-Fachausschuss empfiehlt den Ausbau von Sonderschulen unverzüglich zu stoppen und die entsprechenden Ressourcen (finanziell, personell und pädagogisch) in das Regelschulsystem zu überführen. Wie stehen Sie dazu?
Kogler: Das sehe ich auch so. Ich würde auch so weit gehen, dass man die Mittel aus der Sonderschule sukzessive rauszieht, um damit das inklusive Schulsystem aufzupäppeln, damit man von der Sonderschule leichter loslassen kann. Eine Zeit lang wird es gewisse Paralleleffekte geben, aber das müsste es einem Wert sein, wenn das Ziel ist, Ressourcen aus der Sonderschule ins inklusive System rüberzubringen. Man muss das Vertrauen haben, dass das inklusive System für die Beteiligten leistungsfähig wird. Ein weiteres Thema sind auch die Pädagog*innen denn es gibt viele, die sich fragen: Was muss ich denn dann alles können? Jedenfalls müsste man anständig Geld für ein integratives, inklusives Schulsystem zur Verfügung stellen. Wenn man die Summen verwendet, die für das gesamte Sonderschulsystem ausgegeben werden und in ein inklusives Schulsystem hineindenkt und wirklich hineinlenkt, würde sich die Situation verbessern. Wir sollten zumindest schrittweise vorankommen. Es braucht jedenfalls Ressourcenverschiebungen.
Was ist Ihre Meinung zu einem Rechtsanspruch auf ein 11. und 12. Schuljahr an der Stammschule?
Kogler: Wir sind explizit dafür, scheitern aber am Koalitionspartner. Bei Schüler*innen mit Behinderungen gibt es viele weitere Entwicklungspotentiale. Sie sollten mitwachsen können, auch in die Oberstufe hinein. Ärgerlich, dass es nicht schon so ist.
Wie stellen Sie sich den Abarbeitungsprozess zur Umsetzung der Handlungsempfehlungen vor?
Kogler: Vieles hängt von den Regierungsverhandlungen ab, denn diese sind ein Kompass für fünf Jahre. Da kann man nicht so schnell abweichen. Die Gefahr, die ich hier sehe, sind Kürzungsfantasien. Natürlich muss man den Haushalt im Griff haben, da bin ich der erste als Ökonom. Die Frage ist nur: Wo und wie organisiere ich das? Es ist wichtig, dass diejenigen, die am Verhandlungstisch sitzen, sich das wirklich vornehmen. Bei der Umsetzung der UN-BRK kann ohne unsere grüne Anwaltschaft und unser Engagement schnell eine Stagnation eintreten, und im dramatischsten Fall sogar größere Lücken entstehen. Die UN-BRK hat einen ganz starken Status. Man muss gemeinsam etwas vorantreiben, wobei Vertretungsverbände eine wichtige Rolle spielen, insbesondere wenn sie konstruktiv vorgehen.
Das zweite besonders dringende Thema bei der Staatenprüfung betraf De-Institutionalisierung. Ein erster Schritt wurde mit einem Pilotprojekt mit der Richtlinie zur Harmonisierung der Persönlichen Assistenz gemacht. Bisher nehmen noch nicht alle Bundesländer daran teil und es besteht nur eine Anschubfinanzierung. Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um eine Regelfinanzierung zu erreichen?
Kogler: Erstens muss das Pilotprojekt ausgeweitet werden, zweitens müssen gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden, dass das kein Pilot bleibt, sondern die jeweils zuständigen Gesetzgeber sagen: So wollen wir es haben, es kommt nun ein Rechtsanspruch. Wir müssen auch anständig die Budgetmittel ausweiten. Auch beim selbstbestimmten Wohnen muss es einen einheitlichen Leistungskatalog geben.
Menschen mit Behinderungen sind deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen. Welche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen werden Sie treffen, um Menschen mit Behinderungen einen chancengleichen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen?Mit der in der vergangenen Woche veröffentlichten Richtlinie für Inklusive Arbeit gem. § 33 BBG wurde ein Schritt unternommen, um Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen, damit sie einen Lohn erhalten. Was halten Sie davon? Was fehlt hier Ihrer Meinung nach noch? Wie stehen Sie zu einer Regelfinanzierung dieser Maßnahmen?
Kogler: Das Ziel sollte sein, maximalen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Inklusion am Arbeitsmarkt heißt, dass man sich idealtypischerweise eine Welt vorstellt, in der Werkstätten und ähnliches wenig oder gar keine Rolle mehr spielen. Ob das in der Praxis immer so sein kann oder wird, ist nochmal eine andere Frage. Aber das Ziel ist vor allem, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Da gibt es verschiedene Instrumente, man braucht die entsprechende Förderarchitektur. Hier werden flexiblere Fonds von der Abwicklung her wahrscheinlich die bessere Lösung sein.
Nicht alle Menschen mit Behinderungen können Vollzeit arbeiten. Um von Teilzeit-Arbeit leben zu können, braucht es für Menschen mit Behinderungen ein inklusives Arbeitszeitmodell ähnlich der Altersteilzeit. Wie stehen Sie diesem Vorschlag gegenüber?
Kogler: Ist das als Zuschuss gedacht, wie die Grundeinkommens-Tangente? (Erklärung des Modells seitens des Behindertenrats). Das wäre wohl die bedarfsorientierte Version einer Grundsicherung. In diesem Fall gibt es einen sozialpolitischen Vergleich, der bei uns von der Konstruktion her seit Sozialsprecher Karl Öllinger verfolgt wird. Die Bedarfsorientierung und die Ergänzung, aber immer, um bestimmte Standards zu erreichen. Das ist auch bei Minister Johannes Rauch ein Thema, wenn es um die Sozialhilfe geht, wo der Deckel in die falsche Richtung geht. Ihr Modell ist für mich soweit nachvollziehbar. Ich habe jetzt versucht, es von unseren Grundprinzipien her einzuordnen und denke, es ist sehr Grün-kompatibel. Jedenfalls sollten wir hier weiter gemeinsam an umsetzbaren Modellen arbeiten.
Die Ausgleichstaxe betrifft nur ca. 3 % der Unternehmen in Österreich und wird vielfach von den Unternehmen als Strafe empfunden. Deswegen fordert der Österreichische Behindertenrat, dieses Modell durch ein solidarisches Finanzierungsmodell zu ersetzen, das die Mittelaufbringung auf alle Unternehmen verteilt und aufgrund gesteigerter Einnahmen erlaubt, positives Verhalten zu belohnen. Was halten Sie davon?
Kogler: Das Prinzip kann man schon so nehmen, nur würde ich die Bemessungsgrundlage anders machen, weil die Lohnsummenabgaben jetzt schon zu hoch sind. Insofern kann man das Prinzip auch auf andere Betriebsindikatoren ausweiten, damit die Bemessungsgrundlage breiter wird. Wir bemessen viel zu wenig anhand der Gewinne und Millionenerbschaften, und dafür umso mehr anhand der Arbeit. Das ist sowohl ein Gerechtigkeits- als auch ein volkswirtschaftliches Effizienzproblem. Ich verstehe Ihr Anliegen, aber wir müssten schauen, dass wir die Bemessungsgrundlagen verschieben. Die Hauptgeschichte ist, dass wir von dieser seltsamen Konstruktion, die dann sozusagen so kuriose Dotierungseffekte erzeugt, wegkommen: nämlich, dass nur dann Geld im Ausgleichstaxfonds (ATF) vorhanden ist, wenn Unternehmen der Einstellungspflicht nicht nachkommen und damit Ausgleichstaxe zahlen. Aber wir sollten nicht schon wieder die Löhne belasten, sondern die Betriebe sollten entlang ihrer Wertschöpfung etwas beitragen. Da spielen Lohnsummen eine Rolle, aber nicht mehr nur allein. Was wäre denn, wenn Miet- und Pachteinnahmen, Provisionen oder Gewinne in diese Bemessungsgrundlage hineinkommen?
Menschen mit Behinderungen haben keinen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem. Welche konkreten Maßnahmen werden Sie setzen, um Menschen mit Behinderungen einen räumlich barrierefreien Zugang zu ermöglichen?
Kogler: Sie haben das Thema in Ihrem Positionspapier bereits genau adressiert. In unserem Programm findet sich ein Anhaltspunkt in diese Richtung. Aber ein solches Programm ist natürlich immer die Idealvorstellung. Realpolitisch erkenne ich eine große Chance, so ist etwa aktuell mit den neuen Primärversorgungszentren einiges in Bewegung gekommen, hier ist Barrierefreiheit einfach eine Vorgabe. Was mit Bestehendem ist, gerade in städtischen Gebieten, in den inneren Bezirken Wiens, ist ein schwierige Frage, die aber auch gelöst werden muss. Ein weiteres Steuerungsinstrument haben wir bereits umgesetzt, nämlich, dass neue Kassenverträge nur dann erteilt werden, wenn Ordinationen barrierefrei sind. Will man noch schneller etwas vorwärtsbringen, müsste es wohl wieder über Fördersysteme organisiert werden. Es muss jedenfalls zeitliche Vorgaben geben. Etwa, indem in 5 Jahren eine sehr große Anzahl der Praxen sehr hohe Standards erfüllen muss.
Danke für das Gespräch.
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