Wie im Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte dargelegt, „sehen sich Menschen mit Behinderungen mit erheblichen Hindernissen in den Bereichen Bildung, Ausbildung, Beschäftigung, Sozialschutz, Wohnen und Gesundheit konfrontiert“. Da Menschen mit Behinderungen besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind und um die Chancengleichheit in der Europäischen Union weiter zu verbessern, muss diese EU-Strategie auch Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderung von Armut dieser Gruppe umfassen.
Der Österreichische Behindertenrat unterbreitet hiermit der EU-Kommission folgende Vorschläge für Maßnahmen, die in die künftige EU-Strategie zur Bekämpfung von Armut einfließen sollen:
- Erhebung statistischer Daten: Es werden dringend Daten zu Armut und sozialer Ausgrenzung benötigt, die auch Menschen mit Behinderungen miteinschließen. Diese Daten sollten nach Art der Behinderung, Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt werden. Solange Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen in statistischen Daten nicht sichtbar sind, werden sie auch in der Politik nicht sichtbar sein.
- EU-Finanzierung von inklusiver Beschäftigung und Stopp der Finanzierung von Institutionen mit EU-Mitteln: In den meisten EU-Staaten gibt es kein inklusives Bildungssystem. Kinder mit Behinderungen müssen oft Sonderschulen besuchen oder werden in Institutionen untergebracht. In einigen EU-Staaten werden solche segregierenden Einrichtungen für „Bildung“ immer noch mit EU-Mitteln finanziert. Diese Praxis verstößt direkt gegen die Charta der Grundrechte der EU, die UN-Behindertenrechtskonvention sowie andere Menschenrechtsverträge und muss aufhören. Aufgrund des Mangels an inklusiver Bildung werden Kindern mit Behinderungen oft von Anfang an gleiche Bildungschancen verwehrt. Diese Ausgrenzung hat langfristige Folgen – sie schränkt den Zugang zu höherer Bildung und Beschäftigung ein, erhöht die Abhängigkeit und führt letztendlich zu einem höheren Armutsrisiko. In der EU leben mehr als 100 Millionen Menschen mit Behinderungen. Die EU kann es sich nicht leisten, das Potenzial und die Leistungen dieser großen Gruppe zu verschwenden, nur weil sie es versäumt, angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz (z. B. persönliche Assistenz, technische Arbeitshilfen usw.) und ein inklusives Beschäftigungssystem bereitzustellen. Segregierte geschützte Beschäftigungsstrukturen wie Werkstätten verschärfen die Armut von Menschen mit Behinderungen, da sie nur Taschengeld und keine Sozialversicherung bieten.
- Menschenrechtsbasiertes Modell zur Einschätzung von Behinderung und Angemessenheit finanzieller Beihilfen: In den meisten EU-Staaten basieren die Verfahren zur Einschätzung von Behinderung nach wie vor auf dem medizinischen Modell von Behinderung und ignorieren den Menschenrechtsaspekt der Leistungsbewertung vollständig. Darüber hinaus reicht die Höhe der Beihilfen oft nicht aus, um die Lebenserhaltungskosten zu decken. Da das Leben mit einer Behinderung mit zusätzlichen Kosten verbunden ist (barrierefreie Wohnungen, Hilfsmittel usw.), müssen Menschen mit Behinderungen diese Verfahren über sich ergehen lassen, um eine Chance auf finanzielle Leistungen und Unterstützung wie persönliche Assistenz am Arbeitsplatz zu haben. Das muss sich ändern. Außerdem sollten Menschen mit Behinderungen ihre Beihilfen, Leistungen und/oder Erbschaften nicht verlieren, nur weil sie aktuell erwerbstätig sind.
Von Gudrun Eigelsreiter