Am 9. Juni 2024 werden die Abgeordneten für das Europäische Parlament gewählt. Anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen am 5. Mai macht der Österreichische Behindertenrat auf die Bedeutung der EU-Wahl für die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen aufmerksam.
Klaus Widl, Präsident des Österreichischen Behindertenrats, und Vizepräsident Martin Ladstätter sprachen im Vorfeld der Wahl mit allen Spitzenkandidat*innen der im EU-Parlament vertretenen österreichischen Parteien über behindertenpolitisch relevante Themen.
Reinhold Lopatka (ÖVP), Andreas Schieder (SPÖ), Harald Vilimsky (FPÖ), Lena Schilling (Die Grünen) und Helmut Brandstätter (NEOS) erklärten ihre Standpunkte zu zahlreichen Themen, die Menschen mit Behinderungen betreffen. So ging es etwa um den Europäischen Behindertenausweis, die Disability Intergroup im Europäischen Parlament, die Gleichbehandlungsrichtlinie und die Wiederernennung eines Kommissars bzw. einer Kommissarin für Gleichstellung.
Darüber hinaus wurde erörtert, wie die Parteien die Interessen von Menschen mit Behinderungen vertreten, welche Maßnahmen gesetzt wurden, um die Wahlkampagnen, das Wahlprogramm und Veranstaltungen barrierefrei zu gestalten und ob Menschen mit Behinderungen für die EU-Wahl kandidieren.


Interview
Martin Ladstätter: Was halten Sie vom Europäischen Behindertenausweis? Welche Maßnahmen müssen Ihrer Meinung nach getroffen werden, um die Richtlinie bestmöglich in nationales Recht umzuwandeln?
Dr. Reinhold Lopatka: Ich halte den Europäischen Behindertenausweis grundsätzlich für positiv. Ich glaube, es ist wichtig, dass in den großen Bereichen die Europäische Union zeigt, dass man sich zuständig fühlt. Auch in jenen Bereichen, wo man dann auf die staatliche Umsetzung warten muss. Der Europäische Behindertenausweis, auch mit dem Europäischen Parkausweis, ist so ein Bereich. Was die staatliche Umsetzung betrifft, kann natürlich auch das Europäische Parlament etwas leisten, indem man mit Kollegen und Kolleginnen redet. Auf der anderen Seite ist es dann schon die Aufgabe der Kommission, darauf zu drängen, wenn man in den sogenannten Räten, das sind die zuständigen Minister, zusammenkommt.
Martin Ladstätter: Menschen mit Behinderungen stoßen oft auf Barrieren. Welche Maßnahmen haben Sie gesetzt, um Ihre Kampagne sowie Ihr Wahlprogramm und die Veranstaltungen barrierefrei zu gestalten? Welche Vorkehrungen wurden konkret getroffen?
Dr. Reinhold Lopatka: Bei der Kampagne versuche ich, auf Menschen zuzugehen. Die Veranstaltungsorte, an denen ich bisher war, waren barrierefrei. Bei mir sind das vor allem universitäre und kommunale Einrichtungen.
Was das Programm betrifft, laden wir im Zuge der Österreichgespräche Interessierte in jedem Bundesland ein, mitzuwirken. Und daneben auch Interessenvertreter, Lobbyisten. Das klingt negativ, aber ich sehe Sie auch als Lobbyisten.
Martin Ladstätter: Ja, wir sind tatsächlich Lobbyisten.
Dr. Reinhold Lopatka: Wenn da und dort Anregungen kommen, versuchen wir, diese mitzunehmen, damit dann wesentliche Punkte in unserem Programm berücksichtigt werden. Und das kann ich jetzt schon sagen: In unserem Wahlprogramm wird auch der Bereich Menschen mit Behinderungen Berücksichtigung finden.
Martin Ladstätter: Wie gestalten Sie Ihre Kampagne und wie werden Menschen mit Behinderungen konkret mit einbezogen? Sie haben es jetzt kurz anklingen lassen.
Dr. Reinhold Lopatka: Wir haben heuer Arbeiterkammerwahlen sowie Wahlen in zwei Bundesländern, die Europaparlamentswahlen, im September die Nationalratswahl und dann im Jänner 2025 Landtagswahl in Vorarlberg. Ich versuche, ein Bewusstsein zu schaffen, dass diese Europaparlamentswahl wichtig ist. Das Wichtigste ist, die Menschen zu motivieren, dass sie zur Wahl gehen. Und wenn ich Einladungen bekomme, diese weitestmöglich anzunehmen.
Martin Ladstätter: Wie viele Menschen mit Behinderungen haben Sie in Ihrer Liste?
Dr. Reinhold Lopatka: Ich habe jetzt nicht akribisch nachschauen lassen. Somit weiß ich nur von einem Kollegen, dass er ein Kollege mit Behinderung ist. Sein Gesundheitszustand hat sich verschlechtert und er hat mich gefragt hat, ob er von der Liste gehen soll. Nein, warum sollte er? Es könnte aber durchaus weitere Kollegen mit Behinderung geben.
Martin Ladstätter: Werden Sie sich für die Wiedereinsetzung der Arbeitsgruppe zum Thema Menschen mit Behinderungen im Europäischen Parlament einsetzen?
Dr. Reinhold Lopatka: Ja, denn ich finde, das Europäische Parlament ist ein Arbeitsparlament, und daher macht die Disability Intergroup einen Sinn.
Martin Ladstätter: Wer wird Teil der Arbeitsgruppe sein?
Dr. Reinhold Lopatka: Ich kann Ihnen nur versprechen, dass ich schauen werde, dass jemand von uns die Bereitschaft hat. Ich weiß aber erstens noch nicht, wie viele Mandatare wir haben werden und auch nicht, in welchen Ausschüssen wir sind. Weil das soll dann schon zusammenpassen, dass das jemand ist, der auch in den Ausschüssen vertreten ist, die sich mit diesen Fragen vor allem beschäftigen. Weil irgendwie betrifft sie dann alle Ausschüsse. Aber es gibt dann schwerpunktmäßig Ausschüsse. Ich denke vor allem, was den Arbeitsmarkt betrifft, weil die Teilhabe bei Inklusion ganz wichtig ist, auch was den Arbeitsmarkt betrifft.
Martin Ladstätter: Das Europäische Behindertenforum fordert starke Gremien in allen EU-Institutionen, die sich für die Gleichstellung und die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Unterstützen Sie die Wiederernennung eines Kommissars für Gleichstellung?
Dr. Reinhold Lopatka: Ja, wobei ich dazu sagen muss, da muss man ehrlich sein, dass Europaparlamentarier auf die Aufstellung der Kommission nur indirekt Einfluss haben. Sie wissen es, da gibt es Verhandlungen.
Die Europäische Union ist ein komplexes Gebilde. Da sind die Regierungschefs zuerst am Wort, dann der Kommissionspräsident oder die Kommissionspräsidentin, die dann weitere Kommissare vorschlägt. Aber im Vorfeld sind dann nationalstaatliche Regierungen stärker betroffen. Sollte das noch die aktuelle Regierung sein, ist es für mich schon möglich, da mit dem Bundeskanzler zu reden.
Zum Kommissar für Geleichberechtigung kann ich jetzt schon sagen: Ja, ich setze mich ein, aber ich bin nicht am Tisch, an dem die Entscheidung getroffen wird. Aber ich gehe davon aus, es gibt ja kein Argument dagegen.
Martin Ladstätter: Unterstützen Sie die Gleichbehandlungsrichtlinie und was werden Sie tun, damit die Verhandlungen wieder ins Leben gerufen werden und die Richtlinie bestenfalls auch verabschiedet wird?
Dr. Reinhold Lopatka: Das Europäische Parlament hat 2023 über einen Entschließungsantrag abgestimmt, der den Rat auffordert, die Gespräche zur Anti-Diskriminierungsrichtlinie wieder aufzunehmen. Diesen hat die Volkspartei im Europaparlament auch unterstützt. Ich glaube, hier ist der direkte Austausch mit den Delegationen im Europaparlament, aber auch den Vertreterinnen und Vertretern im Rat wichtig, um die Zweifel, die einige Mitgliedstaaten hinsichtlich der Subsidiarität im Zusammenhang mit dieser Richtlinie haben, auszuräumen und hier vielleicht noch an Schrauben zu drehen, damit ein für alle tragbarer Kompromiss noch möglich ist.
Ich werde jedenfalls das Gespräch auch mit meinen deutschen Kolleginnen und Kollegen im Parlament suchen und die Thematik im Detail diskutieren. Festzuhalten ist, dass Österreichs Bundesregierung in diesem Bereich schon Einiges umgesetzt hat. Da fällt mir die Vereinheitlichung der Systeme für die persönliche Assistenz ein. Die Bundesregierung hat hier 100 Mio. € in die Hand genommen.
Martin Ladstätter: Wie beabsichtigen Sie sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit mit der Behindertenbewegung nicht nur eng, sondern auch effektiv ist?
Für mich sind Barrierefreiheit und Gleichbehandlung nicht optional. In meinen Augen ist die Verwirklichung von Behindertenrechten nicht nur ein politischer, sondern auch ein verfassungs- und menschenrechtlicher Auftrag.
Martin Ladstätter: Danke für das Gespräch.
Das Interview mit Dr. Reinhold Lopatka fand am 9. April 2024 in Wien statt.