Interview mit Mag. Andreas Schieder, Leiter der SPÖ-Delegation im EU-Parlament und Spitzenkandidat der SPÖ für die EU-Wahl am 9. Juni 2024
Klaus Widl: Was halten Sie vom Europäischen Behindertenausweis? Welche Maßnahmen müssen Ihrer Meinung nach gesetzt werden, um die Richtlinie bestmöglich in nationales Recht umzuwandeln?
Mag. Andreas Schieder: Dass im Europäischen Parlament der Beschluss für den Europäischen Behindertenausweis gefasst werden konnte, ist meiner Meinung nach ein großer Meilenstein.
Wir reden immer vom vereinigten Europa. Und für gewisse Bevölkerungsgruppen ist dieses einige Europa in der Realität noch nicht existent. Eine dieser Gruppen sind behinderte Menschen. Dass nämlich der Status als behinderter Mensch mit allem, was das mit sich bringt: Grenzüberschreitend, wenn man reist, berufstätig ist, studiert oder auf eine andere Weise grenzüberschreitend tätig sein will, das eben nicht mit sich bringt. Da kann es gehen um den berühmten Behindertenparkplatz, da geht es aber vor allem darum, dass die Ausweise gegenseitig anerkannt werden und damit auch sichergestellt ist, dass ein Behindertenausweis quasi in jedem Land dasselbe bewirkt.
Das ist mal ein erster wichtiger Schritt. Dann wird man sehen, wo es in der Umsetzung überall hakt, wo Probleme entstehen. Diese wird man in einem weiteren Schritt klären können. Ohne den Behindertenausweis würden wir diese Probleme so gar nicht sehen. Daher ist es ein wichtiger Schritt.
Und der nächste Schritt wird vor allem im Europäischen Sozialausschuss natürlich sein müssen: Wie kann man de facto auch das europäische Leben von Menschen mit Behinderungen verbessern? Da geht es um Fragen wie Reisetätigkeit, Berufstätigkeit, Ausbildung, Studieren, Schule, grenzüberschreitende Lehrlingsausbildung, Arbeitspraktika und das ganze große Feld Tourismus.
Dann geht es noch um das gesamte soziale Feld, das wir in Europa an sich haben: Nämlich Pensionsansprüche, die man im Ausland erwirbt, Anerkennungen von Ausbildungen und Diplomen und so weiter. Hier sieht man, dass im Detail, hier gerade auch für behinderte Menschen, was Ausbildungsdiplome betrifft, aber auch die Anerkennung von Renten oder andere Dinge, in Europa noch einiges zu tun ist und dass das grenzüberschreitend für alle Menschen kommt. Denn Ausnahmen wie beispielsweise von Parkverboten, Zugänge, Ermäßigungen und dergleichen sind in jedem Land anders.
Wenn wir mit dem Europäischen Behindertenausweis die Mobilitäten von Menschen mit Behinderungen erhöhen, werden wir auch den Problemen näherkommen, wo man nachschärfen wird müssen. Ich bin mir sicher, dass solche Vereine wie der Österreichische Behindertenrat hilfreich sein können, wenn es darum geht, darauf hinzuweisen, wo die Probleme liegen.
Das große Ziel ist Barrierefreiheit. Und dabei geht es um die klassische Barrierefreiheit im Alltag, sprich die Bordsteinkante auf der Straße, als auch die Bordsteinkante in den Regelungen. Und diese ist grenzüberschreitend nochmal mannigfaltiger. Wir haben dann die Frage von Anerkennungen, von Zeugnissen, von Zulassungen – gerade, wenn es um Ausbildungs- und Studienplätze geht. Das ist auch angesichts der Mehrsprachigkeit ein schwieriger Bereich. Gerade bei Menschen mit Behinderungen kann die Sprache eine Hürde darstellen, etwa bei Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderungen. Aber auch bei Menschen mit Sehbehinderungen gibt es zahlreiche Hürden. In Österreich arbeiten wir daran, dass Hürden abgeschafft werden. Aber es gibt noch immer Hürden, und diese werden natürlich um ein Vielfaches schwerer spürbar, wenn man im Ausland ist, um es vereinfacht zu sagen.
Der Europäische Behindertenausweis ist einer der großen Durchbrüche, um einmal klarzumachen: Es gibt eine europäische Verantwortung für Menschen mit Behinderungen.
Es stellen sich beispielsweise folgende Fragen: Wenn jemand als europäischer Tourist ein Verkehrsmittel besteigt, ist die Ermäßigung überall gleich geregelt oder ist es unterschiedlich? Wie gehe ich vor, wenn ich Assistenz brauche? Wie kann ich mich mit der Assistenz verständigen? Wie ist es um Ermäßigungen, Transportmittel, Hotels usw. bestellt? Wenn es um das Leben geht, ist das nochmal anders. Welche Förderungen stehen mir zu? Welche Förderungen von daheim kann ich mitnehmen, welche Ansprüche habe ich? Ab wann stehen mir, wenn ich den Wohnsitz verlagere, auch Ansprüche aus dem jeweiligen Land zu?
Da gibt es generelle Regeln, aber man muss nochmals überprüfen, ob alle Regeln für Menschen mit Behinderungen passen oder ob man sie adaptieren und verbessern muss.
Klaus Widl: Menschen mit Behinderungen stehen häufig vor Barrieren, wenn sie ihr Wahlrecht ausüben möchten, haben oft mangelnden Zugang zu Wahlinformationen. Welche Maßnahmen haben Sie gesetzt, um ihre Kampagne sowie ihr Wahlprogramm und Veranstaltungen barrierefrei zu gestalten? Werden Menschen mit Behinderungen dabei mit einbezogen?
Mag. Andreas Schieder: Wir bemühen uns, in unserer Kommunikation alle Menschen zu erreichen. Trotzdem muss man ehrlich zugestehen: Es fehlen uns einerseits die Mittel, manchmal auch das Knowhow, Informationen ausreichend zur Verfügung zu stellen. Wir haben natürlich, wenn wir auf Social Media aktiv sind, Bildsprache, manchmal Untertitel, im seltensten Fall Gebärdenübersetzung noch dabei. Das ist anders, wenn es zum Beispiel um Reden im Parlament geht. Ich glaube auch, dass unsere generellen Informationen im Internet auch nicht der Barrierefreiheit entsprechen, um das ehrlich zu sagen. Aber ich werde den Gedanken – gerade nach diesem Gespräch – nochmal mitnehmen, das nochmal zu verstärken. Deswegen ist eure Tätigkeit besonders wichtig, weil ihr natürlich die Möglichkeit habt, das an die Menschen so weiterzutragen, dass die Information accessible ist.
Klaus Widl: Wie viele Menschen mit Behinderungen haben Sie in Ihrer Liste?
Mag. Andreas Schieder: Ich gehe davon aus, dass der Anteil von Menschen mit Behinderungen verschwindend gering ist. Wir fragen aber bei der Listenerstellung das Vorliegen einer Behinderung nicht ab, was einerseits richtig ist, andererseits auch zeigt, dass generell Menschen mit Behinderungen im politischen Alltag in Parteien eine statistisch unterrepräsentierte Rolle spielen.
Klaus Widl: Wie beabsichtigen Sie sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit mit der Behindertenbewegung nicht nur eng, sondern auch effektiv ist?
Mag. Andreas Schieder: Die Aufgabe liegt im Europäischen Parlament bei der bzw. dem Abgeordneten, die bzw. der in diesem Bereich aktiv ist. Wir engagieren uns in verschiedenen Ausschüssen. In diesem Fall wäre es Evelyn Regner, die in den entsprechenden Ausschüssen jetzt schon aktiv ist. Es ist ihre vordringliche Aufgabe, mit allen Stakeholdern – sprich mit den notwendigen Verbänden und politischen Vertretungen sowohl in Österreich als auch in Europa – den Kontakt zu halten, Ansprechperson für Anliegen zu sein und bei europäischen Gesetzesvorhaben die Dimension mitzudenken bzw. bei Gesetzen, die Menschen mit Behinderungen direkt betreffen, etwa den Europäischen Behindertenausweis, mit den Verbänden eng über Gesetzesentwürfe zu reden und was man aufgrund von Erfahrungen noch besser machen kann.
Klaus Widl: Werden Sie die Wiedereinsetzung der Disability Intergroup im Europäischen Parlament unterstützen?
Mag. Andreas Schieder: Für die Implementierung einer Intergroup muss sich immer eine ausreichende Anzahl an Abgeordneten finden. Wir teilen uns das immer auf, weil jeder Abgeordnete kann nur für eine gewisse Anzahl an Intergroups melden. Wir in der SPÖ-Delegation versuchen immer, uns so aufzuteilen, dass alle Anliegen, die uns wichtig sind, auch zustande kommen können. Daher werden wir uns auch dafür einsetzen, dass es die Disability Intergroup in der nächsten Periode gibt. Wir schauen immer, wie viele Unterschriften es generell gibt und ob wir unterschreiben müssen oder es schon reicht. Evelyn Regner wird sich auch wieder darum kümmern, dass die Disability Intergroup wieder zustande kommt.
Klaus Widl: Das Europäische Behindertenforum fordert eine Überarbeitung der Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030, um neue Initiativen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Inwiefern werden Sie diese Initiative unterstützen? Welche Maßnahmen könnte man setzen, um die Strategie voranzutreiben?
Mag. Andreas Schieder: Ich werde das absolut unterstützen, denn ich glaube, dass genau diese Strategie der notwendige Hebel ist, um die Anliegen von Menschen mit Behinderungen voranzutreiben, weil sie einen gesamtgesellschaftlichen Ansatzpunkt bietet: Von der europäischen Ebene bis zur lokalen Ebene. Sozusagen von der Politik über die Arbeitswelt bis zum persönlichen Wohnumfeld, von Zugängen bis zu Förderungen. Dieses umfassende Ansehen und Entwickeln einer Strategie halte ich für ganz notwendig, und daher muss man das in der nächsten Periode fortsetzen bzw. auch immer darauf schauen, wo es gelungen ist, Dinge umzusetzen und wo noch nicht genug umgesetzt wurde, damit man weiterhin Druck machen kann.
Klaus Widl: Das Europäische Behindertenforum fordert starke Gremien in allen EU-Institutionen, die sich für die Gleichstellung und Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Unterstützen Sie die Wiederernennung einer Kommissarin bzw. eines Kommissars für Gleichstellung?
Mag. Andreas Schieder: Absolut! Hier möchte ich noch anmerken, dass in meinem Arbeitsfeld Außenpolitik – ich nehme an vielen Wahlbeobachtungen teil – das Thema Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Wahllokalen auch in den entferntesten afrikanischen Winkeln eine ganz starke Rolle spielt. All unsere Auswertungsbögen enthalten auch eine Frage nach der Erreichbarkeit von Menschen mit Behinderungen – dem Grundprinzip folgend, dass jeder Mensch das Recht hat, alleine seine Stimmabgabe vorzunehmen und wir das auch durchsetzen, egal, ob das hochindustrialisierte Staaten oder solche mit extrem schwacher Infrastruktur sind. Es muss überall den gleichen Zugang geben, egal, auch welchem Erdteil. Das ist ein Beispiel, das, wenn man an Behindertenpolitik denkt, meist nicht an erster Stelle kommt. Aber es wichtig, dass es als horizontales Thema in allen Bereichen einfließt.
Klaus Widl: Was werden Sie tun, damit die Gleichbehandlungsrichtlinie wieder ins Leben gerufen und bestenfalls auch verabschiedet wird?
Mag. Andreas Schieder: Seit 15 Jahren blockiert der Rat den Gesetzgebungsprozess. Das Europäische Parlament hat bereits 2009 seinen Standpunkt zum Vorschlag der Kommission angenommen. Die derzeitigen EU-Vorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierung sind leider fragmentiert, denn es sind nur einige Formen der Diskriminierung am Arbeitsplatz und auf dem Arbeitsmarkt abgedeckt. Wir brauchen aber eine umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie, die den rechtlichen Schutz gegen Diskriminierung ausweitet, einschließlich der Diskriminierung aus Gründen des sozialen Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Wir haben letztes Jahr im April in einer Entschließung die EU-Länder erneut aufgefordert, das Gesetz endlich zum Abschluss zu bringen. Und auch in der nächsten Legislaturperiode werden wir solange Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben, bis der Rat dem Gesetz zustimmt.
Klaus Widl: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit Mag. Andreas Schieder fand am 8. März 2024 in Wien statt.