Interview mit NEOS-Spitzenkandidatin Beate Meinl-Reisinger zu sozial- und behindertenpolitischen Fragen im Vorfeld der Nationalratswahl 2024
12. Juni 2024
Österreichischer Behindertenrat: Was bedeutet Inklusion für Sie und worin sehen Sie in Ihrer Arbeit als Politikerin den größten Handlungsbedarf?
Meinl-Reisinger: Mein Ansatz ist „gleiche Chancen für alle“, vor allem alle Jungen. Da ist natürlich Inklusion ein ganz wichtiger Teil davon, das heißt Teilhabe und Selbstbestimmtheit. Hier sehe ich den größten Handlungsbedarf v.a. im Bildungsbereich, weil er schlechter wird. Man könnte sagen, in manchen Bereichen geht nichts weiter, bei Bundesminister Polaschek sehe ich das Problem, dass es wieder in die falsche Richtung geht.
Kennen Sie die Forderung nach einem Inklusionsfonds?
Meinl-Reisinger: Fiona Fiedler hat diesen Antrag unterstützt. Wobei nicht nur der Fonds geregelt werden muss, sondern es muss Teil des allgemeinen Bildungssystems sein, dass Unterstützungsleistungen für pädagogische Ausbildungen und Assistenz passieren, Räumlichkeiten adaptiert werden und v.a. die Umsetzung des Rechts auf ein 11. und 12. Schuljahr, was auch eine Ressourcenfrage ist.
Haben Sie Kandidat*innen mit Behinderungen auf der Liste?
Meinl-Reisinger: Die ehemalige Praktikantin von Fiona Fiedler, Christina Holmes, kandidiert auf der Kärntner Landesliste auf Platz 3 und auf der Bundesliste.
Die Staatenprüfung durch den UN-Fachausschuss fiel nicht rosig aus. Wie würden Sie eine strukturierte Umsetzung der Handlungsempfehlungen in Gang setzen?
Meinl-Reisinger: Fiona Fiedler hat die Empfehlungen in Anträge gegossen – strukturiert nach den Bereichen Bildung, Gesundheitsbereich sowie Arbeit und Soziales, damit wir unterschiedliche Ressorts ansprechen. Das zweite wichtige Thema ist, dass man beim Nationalen Aktionsplan wieder auf die Tube drücken muss und viele Aspekte bestehen, die die Regierung offensichtlich nicht weitergebracht hat und auch nicht vorhat, weiterzubringen. Wir werden der Antreiber für eine Regierung sein, die Reformen weiterbringt, wobei einer der allerwichtigsten Bereiche der Bildungsbereich ist. Wir sehen auch durch den Kampf von Christoph Wiederkehr in Wien, dass er ohne den Bund an Grenzen stößt – auch, was Unterstützungsleistungen und Assistenzkräfte angeht sowie das Recht auf das 11. und 12. Schuljahr. Er hat das zwar gesichert, aber nicht rechtlich abgesichert. Aufgrund fehlender Ressourcen kann er nicht garantieren, dass das 11./12. Schuljahr an der gleichen Schule stattfindet. Wenn kein Druck da ist, dass Inklusion wichtig ist und wir von Menschenrechten sprechen und nicht von Gnadenakten, wird’s halt schwierig.
Es gibt auch zur Umsetzung der UN-Konvention den Nationalen Aktionsplan Behinderung. Werden Sie diesen unterstützen?
Meinl-Reisinger: Wir unterstützen ihn, aber der geht ja bis 2030.
Es muss im neuen Regierungsprogramm festgeschrieben werden, dass er weiterhin gilt.
Beate Meinl-Reisinger: In Regierungsprogramme wurde schon sehr viel geschrieben. Es muss ins Regierungsprogramm geschrieben und getrieben werden, das ist vor allem Thema.
Der UN-Fachausschuss empfiehlt, den Ausbau von Sonderschulen unverzüglich zu stoppen und entsprechende Ressourcen in das Regelschulsystem zu überführen. Wie würden mögliche konkrete Schritte aussehen, auch wenn Sie sagen, ins Regierungsprogramm etwas hineinzuschreiben, das ist schnell getan. Wie steht es um die Chancen, das dementsprechend gut umsetzen zu können?
Meinl-Reisinger: Von unserer Seite gibt es ein volles Bekenntnis dazu. Aber es ist v.a. ein Thema, ein klares politisches Bekenntnis zu Inklusion abzugeben. Es gibt Bereiche, wo wir sagen, es wäre schön, aber wie finanzieren wir es? Aber in dem Bereich fehlt das Bekenntnis. Hier sehe ich den größten Hebel, zu sagen: Wir wollen das als Gesellschaft. Und dann müssen wir das einbetten in einen guten Aktionsplan.
Der zweite wichtige Punkt betraf De-Institutionalisierung. Ein wichtiger Punkt davon ist auch Persönlichen Assistenz, es gibt ja den Piloten zur Persönlichen Assistenz. Es könnten sich alle Länder beteiligen, 100 Mio. Euro wurden bereitgestellt. Die Länder sind aufgerufen, das Geld abzuholen und sich an der Förderrichtlinie zu beteiligen. Welche Maßnahmen werden Sie ergreifen, um eine Regelfinanzierung zu erreichen, damit auch nach Ausschöpfen der 100 Mio. Euro selbstbestimmtes Leben möglich ist?
Meinl-Reisinger: Wenn es um die nachhaltige Finanzierung von Fonds geht, gibt es immer die Frage nach der gesetzlichen Dotierung. Das wäre eine Möglichkeit. Oder man kann es institutionell wo dranhängen, dass es auf jeden Fall gesichert ist. Das Thema haben wir in vielen Bereichen, dass es Jahr für Jahr im Budget neu verhandelt werden muss. Es braucht einen längerfristigen Fahrplan. Den ganzen Bereich der De-Institutionalisierung halte ich für sehr wichtig. Aber auch da sind wir in einem Bereich, der über Ressorts, Bund, Länder und Gemeinden geht. Deshalb ist die Koordination so wichtig. Und es braucht Geldmittel oder zumindest eine Verschiebung der Geldmittel und ein gerütteltes Maß an gesellschaftlichem Umdenken.
Wie kann die Finanzierung der Persönlichen Assistenz nach dem Verbrauch der 100 Mio. Eur. gesichert werden? Dem Unterstützungsfonds wurden einmal Finanzmittel zugewiesen. Es gibt jedoch Bundesländer, die argumentieren, sie beginnen nicht eine Leistung auszurollen ohne zu wissen, ob sie diese in drei Jahren noch über diese Mittel bezahlen können oder dann ins Landesbudget übernehmen müssen.
Meinl-Reisinger: Die Bundesländer fordern das rechtliche oder zumindest das politische Bekenntnis, wie die Finanzierung weiter erfolgt. Hier haben wir wieder das übliche Schwarzer Peter-Spiel: Wer zahlt?
Menschen mit Behinderungen sind deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen, gleichzeitig haben sie eine deutlich niedrigere Erwerbsquote. Die Bundesregierung kündigte an, dass der Bund und die Länder 54 Mio. Euro zur Verfügung stellen, um Menschen mit Behinderungen, die in die Werkstätte kommen würden, auf den Arbeitsmarkt zu bringen. Wie stehen die NEOS dazu?
Meinl-Reisinger: Ich habe dieses Thema bereits vor der letzten Nationalratswahl mit Herrn Pichler [verstorbener Präsident des Österreichischen Behindertenrats, Anm.] und auch mit der SPÖ diskutiert. Wir haben eigentlich immer die Selbstbestimmung als Ziel. Verändert man die scharfe Grenze der Arbeits(un)fähigkeit, versieht sie mit einem individuellen Qualifikationscheck und bezieht das AMS ein, könnte man flächendeckend mehr Möglichkeiten schaffen, Menschen tatsächlich auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Zum ATF und dessen Finanzierung: Es werden Unterstützungsstrukturen gefördert, damit Menschen mit Behinderungen am ersten Arbeitsmarkt einen Job finden. Zudem gibt es Lohnkostenzuschüsse, damit es für Arbeitgeber interessant wird.
Meinl-Reisinger: Das ist etwas, über das wir nachdenken könnten, dass man sehr wohl sagt, dass diese Ausgleichstaxe zwar durchaus sinnvoll ist, aber ob man nicht auch andere Anreize setzen könnte.
Das hat es schon gegeben, als es für die Übererfüllung der Beschäftigungspflicht aus dem Ausgleichtaxenfonds heraus Förderungen gab. Die Ausgleichstaxe wird von Unternehmen oft als Sanktion empfunden. Jetzt haben wir dieses System, das noch dazu nur 3 Prozent der Unternehmen betrifft. Für uns stellt sich die Frage, ob man nicht ein solidarisches Modell implementiert, das den Einzelnen weniger kostet, aber durch die Verbreiterung mehr Geld lukriert, um positive Anreize zu setzen.
Meinl-Reisinger: Das Einzige, wo wir bei Ihrem solidarischen System tatsächlich auf der Bremse stehen, ist die Erhöhung der Lohnnebenkosten, ich würde eher mit Anreizen arbeiten. Das ist halt auch ein Fonds, man müsste eine anderweitige Finanzierung überlegen. Im Bereich langzeitarbeitsloser Menschen gibt es gute Erfahrungen mit Lohnkostenzuschüssen, die eine hohe Beschäftigungswirkung hatten. Es gab auch ein Pilotprojekt für junge Menschen, das gut funktionierte und von Arbeitgebern gut angenommen wurde.
Wenn man die Lohnnebenkosten nicht erhöhen möchte, könnte man dies auch im Steuerrecht oder beim Betriebsergebnis einhängen.
Meinl-Reisinger: Ich halte solche Anreize für weitaus klüger als Strafzahlungen. Und dann beschäftige ich Mitarbeiter*innen mit Behinderungen, die ich ohnehin brauche – bei uns arbeiten ja auch Menschen mit Behinderungen, die einen super Job machen.
Zahlreiche Menschen mit Behinderungen können behinderungsbedingt nicht Vollzeit arbeiten. In der Realität arbeiten sie auf Kosten der Existenzsicherung weniger oder über das ihrer Gesundheit zuträgliche Maß hinaus, somit produzieren wir Langzeitkrankenstände. Uns schwebt ein inklusives Arbeitszeitmodell ähnlich der Altersteilzeit vor, wo die öffentliche Hand einen Teil der Lohnkosten (bis zur Vollzeit) übernimmt. Das heißt, dass man im Vorfeld ein Assessment macht, konkret auf die Person und den Arbeitsplatz bezogen, wie viele Arbeitsstunden sind für diese Person gut, ohne dass die Gesundheit geschädigt wird.
Meinl-Reisinger: Ich kann den Ansatz nachvollziehen. Aber ist das für die Betroffenen nicht gefährlich, dass sie womöglich stigmatisiert werden und weniger Chancen haben? Darüber muss man noch eine Runde nachdenken. Als Arbeitsgeberin ist man mit dem Wunsch, dass immer mehr Mitarbeiter*innen flexibel arbeiten möchten und man individuelle Beschäftigungsmodelle finden muss, ohnehin konfrontiert. Ich habe den Eindruck, der Arbeitsmarkt hat sich hier verändert. Da geht es um Fragen wie Homeoffice, Teleworking, selbstbestimmtes Pausenfinden und flexible Urlaubsregelungen. Dann stelle ich die Frage, ob man Menschen mit Behinderungen so hilft, dass man von vornherein flexibler agiert. Wie gesagt, ich bin hier offen.
Das sind wichtige Gedanken und werden mitgenommen. Warum thematisieren wir die vorherige Einschätzung des Stundenausmaßes in dieser Überlegung? Damit die öffentliche Hand, ähnlich wie bei der Altersteilzeit, einen Teil refundiert. Wir schaffen Existenzsicherung, indem die öffentliche Hand mitsubventioniert.
Meinl-Reisinger: Das wäre im Rahmen dieses Anreizsystems etwas, über das man nachdenken kann.
Etwas, das Menschen mit Behinderungen auch auf Grund von Komorbiditäten immer wieder begegnet, ist eine Überlastung, die zu Krankenständen führt, und dass kein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem vorhanden ist. Ein Punkt, der immer stärker hineinkommt, ist die vermehrte psychische Belastung. Auch psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen sind als Teil der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen zu sehen, anzuerkennen und nicht zu stigmatisieren. Wesentlich ist auch das Thema barrierefreie Ordinationen.
Meinl-Reisinger: Die neuen Ordinationen müssten barrierefrei zugänglich sein. Als meine Mama 1983 ihre Ordination bekam, war diese nicht barrierefrei. Es war bis zum Schluss baulich nicht möglich. Wir brauchen auch eine Zusammenarbeit mit Behörden, was Parkzonen für Menschen mit Behinderungen vor Ordinationen betrifft.
Die Entwicklung geht in die Richtung, dass Menschen mit einer Mobilitätseinschränkung auf eine Wahlarztordination ausweichen müssen. Welche konkreten Maßnahmen würden Sie hier setzen?
Meinl-Reisinger: Das Modell der Finanzierung aus einer Hand mit einer Stärkung des niedergelassenen Bereichs, Kassenverträgen und einem Hausarzt, der ein Gesundheitslotsensystem hat, ist dringend notwendig. Psychotherapie auf Krankenschein fordern wir auch.
Wie stehen Sie zu Primärversorgungszentren?
Meinl-Reisinger: Die finde ich gut, aber es gibt zu wenige. Auch wenn es um Pflege geht, ist das Community Nursing System ein wichtiger Ansatz, weil es zentral organisiert und niederschwellig ist. Aber ohne, den gordischen Knoten der Finanzierungsströme zu lösen, wird das schwierig.
Ist die Wahlwerbung der NEOS barrierefrei?
Meinl-Reisinger: Wir implementieren die europäische Norm für Barrierefreiheit EN 301 549 und die WAI AA, um unsere Webseite möglichst barrierefrei anzubieten. Fiona Fiedler hat durchgesetzt, dass es bei allen Mitgliederversammlungen Gebärdendolmetsch gibt. Wir haben das Programm in Einfacher Sprache. Und was mittlerweile Standard ist, ist die Untertitelung aller Videos.
Vielen Dank für das Gespräch.
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