Am Freitag, den 30. 0ktober fand im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft und des halbjährlich stattfindendem EDF Board Meetings eine Konferenz zum Thema COVID 19 und Menschen mit Behinderungen statt. Organisiert wurde sie in Zusammenarbeit von EDF, Lebenshilfe Deutschland und Deutscher Behindertenrat. Es kamen auch Selbstvertreter*innen zu Wort, wie der Vizepräsident des Österreichischen Behindertenrats Andreas Zehetner. Gudrun Eigelsreiter und Christina Wurzinger haben daran für den Behindertenrat teilgenommen.
Teilnehmer*innen u.a.:
- Ulla Schmidt – Bundesministerin a.D., Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe Deutschland
- Verena Bentele – Vorsitzende des Sprecherrats des Deutschen Behindertenrates
- Yannis Vardakastanis – Präsident des EDFs
- Andreas Zehetner – Europäische Plattform der Selbstvertreter, Vorstandsmitglied Inclusion Europe und Vizepräsident des Österreichischen Behindertenrats
- Annette Tabbara – deutsches Bundesministerium für Arbeit und Soziales
- Luisa Bosisio – Italienischer Behindertenrat
- Klaus Lachwitz – Internationale Allianz für Behinderung (IDA)
- Ramona Günther – Selbstvertreterin, Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Lebenshilfe
- Katrin Langensiepen – Mitglied des Europaparlaments und Co-Präsidentin der Disability Intergroup; Vorsitzende des CRPD Networks des Parlaments
- Satish Mishra – Technischer Leiter: Behinderung und Rehabilitation, WHO/Europa
- Prof Dr. Markus Schefer – Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Nach Begrüßungsworten von Ulla Schmidt, Verena Bentele und Yannis Vardakastanis führte Annette Tabbara die behindertenpolitischen Agenden der deutschen Regierung während COVID-19 aus. Sie stellte beispielsweise das SodEG (das Sozialdienstleister Einsatzgesetz) vor, das sozialen Dienstleistern und Einrichtungen die Weiterfinanzierung während der Krise in der Höhe von 75% garantiert. So konnten REHA-Einrichtungen, Werkstätten, Angebote der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe, etc. unterstützt werden. Mit dem SodEG ist es erstmals in Deutschland gelungen, die soziale Infrastruktur als systemrelevant anzuerkennen.
Luisa Bosisio vom italienischen Behindertenrat schilderten die Zustände von Menschen mit Behinderungen in Italien während des Lockdowns und der anhaltenden COVID-19 Pandemie. Die Missstände reichten, wie in den meisten EU-Ländern, von unzureichendem Zugang zu medizinischer Versorgung, über fehlende barrierefreie Kommunikation und Informationen zur Pandemie, bis hin zu verstärkter Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen. In einer Institution kam es während des Lockdowns nachweislich zu Vergewaltigungen von Frauen mit Behinderungen. Aufgedeckt wurden diese nur zufällig, da Frauen schwanger wurden. Der italienische Behindertenrat und Opferschutzorganisationen gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. Das Ende des Lockdowns in Italien führte jedoch nicht dazu, dass die Werkstätten wieder geöffnet wurden. Auch Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen wurden nur schleppend wieder oder garnicht angeboten. Auf Menschen mit Behinderungen wurde in vielen politischen Maßnahmen in Reaktion auf COVID-19 entweder vergessen oder nicht adäquat reagiert. Jetzt im Oktober kommt es zu einer zweiten Infektionswelle und viele Menschen mit Behinderungen machen sich Sorgen, dass sich ihre Situation weiter verschlechtern wird.
Klaus Lachwitz, Vorstandsmitglied des EDFs und Generalsekretär von IDA (International Disability Alliance), stellte die Ergebnisse des weltweiten Monitoring-Berichts zu den Auswirkungen von COVID 19 auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen vor. Er ist online abrufbar unter https://www.internationaldisabilityalliance.org/content/covid-19-and-disability-movement. Diese von IDA und internationalen Behindertenverbänden durchgeführte Umfrage zeigte das weltweite Versäumnis auf, Menschen mit Behinderungen während der Pandemie adäquat zu schützen.
Vier besondere Problembereiche haben sich herauskristallisiert:
- Die Maßnahmen für den Schutz von Menschen mit Behinderungen, die in Institutionen bzw. Heimen leben waren bzw. sind völlig unzureichend bis nicht vorhanden. Die Personen wurden schlecht bis gar nicht über die Lage, Hintergründe oder notwendige Hygienemaßnahmen informiert, es herrschte ein massiver Mangel an Masken und Desinfektionsmittel. Hinzu kamen vielfach wochenlange Isolierungen ohne, dass eine Erkrankung vorlag. Im Falle von Erkrankungen blieb häufig der Zugang zu Krankenhäusern und zu medizinischer Versorgung verwehrt was weltweit zahlreich Todesfolgen nach sich zog. Eine Reaktion auf diese dramatischen Umstände war die deutlich verstärkte Forderung nach De-Institutionalisierung.
- Zahlreiche gemeindenahe Dienste sind in der akuten Krise schlichtweg weggefallen. Dies erschwerte beispielsweise den Zugang zu medizinischer oder medikamentöser Versorgung, wenn Wege nicht alleine bewältigbar waren oder führte mitunter zu starker Vereinsamung. Besonders stark waren oder sind Personen in ländlichen Gebieten betroffen.
- Die Pandemie hatte und hat besonders schwere Folgen für unterrepräsentierte Gruppen von Menschen mit Behinderungen, wie Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die stark häuslicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt waren oder obdachlose Personen mit Behinderungen. Für Kinder mit Behinderungen gab es kaum gezielte Maßnahmen, familiäre Dienste blieben ersatzlos aus, Familien wurden häufig völlig allein gelassen.
- Der Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikation war und ist für Menschen mit Behinderungen deutlich erschwert bis abgeschnitten. Bei der Triage (also der Einteilung, welche Personen vorrangig zu behandeln sind) wurden und werden Menschen mit Behinderungen oft hintangestellt bis schwer diskriminiert. Sie wurden vielfach anstatt an Krankenhäuser an Behinderteneinrichtungen verwiesen, selbst, wenn ein Aufenthalt in der Intensivstation notwendig gewesen wäre.
Fazit : Weltweit haben massive Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen in der COVID 19 – Krise stattgefunden. Der Bericht endet mit wichtigen Empfehlungen, um den fatalen Fehlern und Versäumnissen in Zukunft entgegen zu wirken. Die wichtigste davon ist die weltweite Berücksichtigung von Artikel 4 Abs. 3 der UN-Behindertenrechtskonvention. Bei allen zukünftigen Planungen, rechtlichen Vorhaben und Programmen zur Krisenbewältigung müssen Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen rechtzeitig und auf Augenhöhe eingebunden werden.
Gerade die sehr negativen Rückmeldungen aus diesem Bericht sind wieder Belege dafür, dass dringend an der De-Institutionalisierung gearbeitet werden muss. Art.19 UN BRK regelt dies eindeutig. Deshalb will das UN BRK Komitee eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema De-Institutionalisierung gründen und diese weltweit vorantreiben.
Ramona Günther, Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Lebenshilfe Deutschland und Selbstvertreterin mit Lernschwierigkeiten legte ihre Situation während der Pandemie dar. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen mit Behinderungen hat sie ein persönliches Budget zur Verfügung und kann sich somit ihre Unterstützung und ihre Unterstützungspersonen selbst aussuchen. Sie würde sich wünschen, dass es einen Rechtsanspruch auf ein persönliches Budget gäbe, da dies ein selbstbestimmteres Leben von Menschen mit Behinderungen sicherstellen würde. Sie findet es würdelos, dass man Menschen mit Behinderungen zumutet sich sprichwörtlich „bis auf die Unterhose auszuziehen“ und detailliert begründen muss, warum man wann und wofür wieviele Euros braucht.
Katrin Langensiepen, die einzige Abgeordnete mit sichtbarer Behinderung im EU-Parlament, sowie Ko-Präsidentin der Disability Intergroup im EU-Parlament betonte, dass Menschen mit Behinderungen und ihre sie vertretende Organisationen automatisch und von Beginn an ins das Krisenmanagement eingebunden werden. Dies muss sowohl auf EU-Ebene, als auch auf nationaler Ebene erfolgen. Außerdem ging sie darauf ein, dass sich Einrichtungen/Institutionen zu Todesfallen entwickelt haben und unterstrich, dass Menschen mit Behinderungen aus der Isolation geholt werden müssen. Die so genannten „geschützten Einrichtungen“ seien keine: „Wen sollen sie schützen? Menschen mit Behinderungen werden dort nicht geschützt!“
Nationale Regierungen und die EU können sich nicht weiterhin beim Thema „Triage“ raushalten, denn in einigen EU-Ländern werden und wurden hier Menschen mit Behinderungen diskriminiert. „Menschenleben darf nicht gegen Menschenleben ausgespielt werden“. Katrin Langensiepen fordert daher eine EU-weite Leitlinie zum Thema Triage, die sich klar gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen positioniert. Außerdem müssen wir die übergreifende 5.Anti-Diskriminierungsrichtlinie endlich umsetzen – das EU-Parlament hat sie ja schon beschlossen, aber im EU-Rat (dem Gremium, in dem Regierungsvertreter*innen der EU-Länder arbeiten) hängt sie.
Auch eine starke EU-Strategie für Menschen mit Behinderungen („EU Disability Rights Agenda“) ist von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang fordert sie auch, dass in dieser Strategie Rechtsverletzungen und Herausforderungen während der COVID-19 Pandemie evaluiert und spezifische Maßnahmen vorgeschlagen werden, um diese in Zukunft zu verhindern.
Satish Mishra von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Sektion Europa und zuständig für den Fachbereich Behinderung und Rehabilitation thematisierte eine Umfrage der WHO aus diesem Jahr. Hier wurden die größten Bedürfnisse während der COVID-19 Krise erfragt. Am meisten wurden von den Teilnehmer*innen der Umfrage genannt, dass es eine universeller Gesundheitsversorgung unabhängig von den finanziellen Mitteln der Personen braucht und auch Schutz für alle bei Gesundheitsnotfällen wie der Pandemie die wir gerade erleben, aber auch bei durch die Klimakrise immer häufiger vorkommenden Naturkatastrophen. Oft wurde auch genannt, dass Inklusion noch immer keine politische Gesundheitspriorität ist. Satish Mishra unterstrich auch, dass es mehr Daten zu Menschen mit Behinderungen bräuchte.
Markus Schefer, Mitglied des UN BRK Komitees ging auf das Erfordernis der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein. Denn in der derzeitigen Notsituation kam und kommt es weltweit zur Verschlechterung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Es müssten noch mehr Daten zu Menschen mit Behinderungen erhoben werden – generell, nicht nur zur Zeiten von Covid-19 – aufgeschlüsselt nach Geschlecht und Alter. Nur Pläne für die Zukunft zu verabschieden, die irgendwann in Kraft treten, reichen nicht aus. Jetzt braucht es von den politischen Verantwortlichen schnelle Hilfe und Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen. „Die Pandemie hat deutlich gemacht wie massiv Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen verletzt werden – nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch hier in Europa!“
Andreas Zehentner, Vorstandsmitglied von Inclusion Europe, Mitglied der Europäischen Plattform der Selbstvertreter*innen und Vizepräsident des Österreichischen Behindertenrats berichtete von seinen Erfahrungen während des Lockdowns und der anhaltenden Pandemie. Er machte auch darauf aufmerksam, dass es von allen beteiligten Akteuren das Bekenntnis brauche, etwas an der derzeitigen Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist es schwierig über alle Aktivitäten im Zusammenhang mit COVID-19 informiert zu bleiben – es braucht mehr Informationen in Leichter Sprache!