Im August 2023 stand die zweite Staatenprüfung Österreichs in Genf an. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Fachausschuss) überprüfte dabei die Umsetzung der UN-BRK in Österreich.
von Felix Steigmann
Statement der Zivilgesellschaft zu den größten Baustellen in Österreich
Im Rahmen des privaten Meetings der zivilgesellschaftlichen Delegation mit dem Fachausschuss wurde von den Delegierten ein Statement verlesen. Das Statement beinhaltet die größten Mängel bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich aus Sicht der Zivilgesellschaft. Im Anschluss an die Verlesung des Statements stellten die Mitglieder des Fachausschusses viele (Nach-)Fragen an die Delegation, um die Probleme in Österreich noch besser zu verstehen. Das private Meeting ist ein wichtiger Teil der Staatenprüfung und diente dem Fachausschuss zur Vorbereitung auf den konstruktiven Dialog zwischen dem Fachausschuss und der österreichischen Staatendelegation am 22. und 23. August.
Untenstehend die leicht gekürzte Übersetzung des englischen Originalstatements in deutscher Sprache:
Hintergrundinformation
Österreich ratifizierte die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 – wie alle UN-Menschenrechtsverträge unter Erfüllungsvorbehalt. Das heißt, dass die Bestimmungen der Konvention erst in österreichisches Recht umgewandelt werden müssen, damit sie die Gerichte direkt anwenden können.
Österreich wurde erstmals 2013 auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Genf überprüft. Das Ergebnis waren sehr gute und treffende Empfehlungen, die Österreich umsetzen sollte. Allerdings wurden die Empfehlungen nicht koordiniert, umfassend und schrittweise aufgearbeitet. Nur einzelne Empfehlungen trafen auf engagierte Personen in wenigen Ministerien, die die Aufarbeitung in die Wege leiteten. Die meisten zuständigen Stellen blieben untätig.
Generell gibt es kein Verständnis für partizipative Prozesse. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fehlt es sowohl am Bewusstsein für die Bedeutung echter Partizipation, also auch am Willen oder den dafür zur Verfügung gestellten Ressourcen. Sehr oft endet die Partizipation in reinen Informationsveranstaltungen oder scheitern Konsultationsprozesse an mangelnden barrierefreien Formaten.
Der meistens vorgebrachte Grund, warum menschenrechtliche Vorgaben nicht umgesetzt werden können, ist die föderale Struktur, also die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Auch hier scheitert es am Willen und an der Koordination, ebenso an der Motivation, kreative Lösungen zu finden und die österreichweite Harmonisierung im Behindertenrecht voranzutreiben. Generell fühlen sich Länder und Gemeinden für die Umsetzung von Menschenrechtsverträgen nicht verantwortlich. Immer wieder wiesen die Bundesländer darauf hin, dass lediglich der Bund Vertragspartner und somit gebunden sei. Das ist natürlich hoch problematisch für die Umsetzung wesentlicher Menschenrechte.
Nationaler Aktionsplan Behinderung (NAP) 2022 – 2030
An sich war die Entstehung des NAP als umfassend partizipativer Prozess seitens des Sozialministeriums geplant. Allerdings hielt sich kaum ein Ministerium und definitiv kein Bundesland an die Vorgaben zur Partizipation. Sie verfassten ihre Teile ohne jegliche Beteiligung von Menschen mit Behinderungen. Das Ergebnis spricht für sich. Die Länder boykottieren den NAP, indem sie bei wesentlichen Maßnahmen nicht mitmachen oder in der Folge eigene Landesaktionspläne machen, die sie weder auf den NAP noch untereinander abstimmen. Als besonders nichtssagend sticht im NAP das Kapitel Bildung hervor. Die Themenbereiche Kinder und Frauen mit Behinderungen, Intersektionalität oder Migration werden auffallend vernachlässigt. Der NAP stieß bei der Zivilgesellschaft auf geschlossene Kritik und landesweite Demonstrationen.
Inklusive Bildung
Die 2015 in drei Bundesländern eingeführten inklusiven Modellregionen wurden 2019 wieder eingestellt. Die Situation im Bildungsbereich hat sich seitdem laufend verschlechtert. Kinder mit Behinderungen haben nach wie vor keinen gleichberechtigten Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung. Nach wie vor haben wir in Österreich ein zweigleisiges Schulsystem. Eltern müssen entscheiden, ob sie ihre Kinder in die Sonderschule geben oder in die Regelschule integrieren wollen. Erst vor kurzem wurde von einem Gericht festgestellt, dass das Bildungsministerium diskriminiert, weil Persönliche Assistenz in Bundesschulen nur Schüler*innen mit körperlichen Behinderungen ab einer bestimmten Pflegestufe bekommen.
Selbstbestimmt Leben
Es gibt weder Pläne noch den Versuch der Koordination eines österreichweiten De-Institutionalisierungsprozesses. Stattdessen wird nach wie vor Geld in den Bau neuer oder in die Renovierung alter Institutionen für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen gesteckt. Das Leben von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen gilt als normal und gut für sie geeignet – sowohl bei der Allgemeinheit als auch bei den politischen Verantwortlichen. Wieder wird die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern als Hauptgrund herangezogen, das System nicht zu verändern. Die Länder sind für die meisten Bereiche verantwortlich, die für ein Leben inmitten der Gemeinschaft notwendig sind. Das betrifft zum Beispiel Wohnen, Persönliche Assistenz und gemeindenahe Unterstützungsdienste. Es gibt einen großen Mangel an barrierefreien Wohnmöglichkeiten. Schätzungen zufolge sind nur 4 Prozent des Wohnbestandes barrierefrei zugänglich. Deshalb müssen auch viele ältere Menschen mit Behinderungen in Institutionen leben.
Während der COVID-Pandemie waren Menschen, die in Einrichtungen leben, viel stärker in ihrer Freiheit eingeschränkt als andere. Auch die Kontakte nach draußen waren extrem beschränkt. In Altersheimen sind viele Menschen gestorben, für Behindertenheime gibt es keine Zahlen. Trotzdem werden die Einrichtungen nicht in Frage gestellt.
Es gibt eine neue Richtline des Bundes zur Persönlichen Assistenz. Aber es ist nur eine Richtlinie, die sagt, dass die Bundesländer Konzepte für Persönliche Assistenz entwickeln sollen und der Bund dafür den Ländern Geld gibt. Außerdem verwendet die Richtlinie das medizinische Modell von Behinderung, einige Gruppen sind wieder ausgeschlossen, und es gibt kein gemeinsames Vorgehen der Bundesländer.
Auch das Recht auf Familie und Partnerschaft gehört zum selbstbestimmten Leben. Es gibt aber viel zu wenig Information und Beratung in Leichter Sprache über das Elternsein, selbstbestimmte Sexualität und Partnerschaft. Es fehlt auch an Assistenz während der Schwangerschaft und danach. Außerdem deuten zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Behörden bei Menschen mit Behinderungen sehr schnell annehmen, dass sich nicht gut um ihre Kinder kümmern können. Eltern mit Lernschwierigkeiten wird die Obsorge oftmals entzogen.
Barrierefreiheit
In Österreich gibt es neun verschiedene Landesbauordnungen. Barrierefreiheit ist bei Gebäuden erst ab einer bestimmten Größe oder einer bestimmten Anzahl an Wohnungen zwingend vorgeschrieben. Seit 2015 gibt es viele Verschlechterungen in den Landesbauordnungen, weil es eine rechtliche Änderung auf nationaler Ebene gegeben hat.
Es gibt keine Strafe und keine geeignete Abhilfe, wenn Standards zur Barrierefreiheit nicht eingehalten werden. |
Allgemein gibt es kein Bewusstsein dafür, was umfassende Barrierefreiheit bedeutet und dafür, dass Barrierefreiheit eine Querschnittsmaterie ist. Das heißt, dass Barrierefreiheit alle etwas angeht. Auch die Projekte der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen Barrierefreiheit oder Menschen mit Behinderungen nicht durchgehend. Das gilt auch für die humanitäre Hilfe.
Gesundheit und Hilfsmittel
Auch Gesundheitseinrichtungen sind noch nicht umfassend barrierefrei. So gibt es zum Beispiel viel zu wenig Information und Material in einfacher Sprache. Zudem gibt es lange Wartezeiten bei Kassenärzt*innen oder für kassenfinanzierte Therapien. Wegen der mangelnden Barrierefreiheit und der langen Wartezeiten sind Menschen mit Behinderungen oft dazu gezwungen, ihre Behandlung oder Therapie selbst zu bezahlen oder länger auf eine Behandlung zu warten.
Es gibt deutlich zu wenig psychiatrische Versorgung und präventive Maßnahmen für Erwachsene und besonders für Kinder und Jugendliche, weil die Gesundheitseinrichtungen schlecht ausgestattet sind und es zu wenig spezialisiertes Personal gibt. Außerdem gibt es große Mängel in der ambulanten Versorgung, was durch die COVID-Pandemie noch verschlimmert wurde. Es gibt tragische Berichte über Selbstmorde von Personen, denen wiederholt aufgrund Ressourcenmangels die Therapie verweigert wurde. Psychische Gesundheit ist immer noch nicht ausdrücklich in den nationalen und regionalen Gesundheitszielen verankert.
In Österreich werden die unterschiedlichen Formen der Rehabilitation (medizinische, berufliche oder soziale) von zahlreichen unterschiedlichen öffentlichen Trägern übernommen. Die Rehabilitationsleistungen hängen von der Ursache der Behinderung und dem Versicherungsstatus der Person ab. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass die Kosten für Hilfsmittel oft nicht ganz übernommen werden und die Personen auf Spenden angewiesen sind, um sich notwendige Hilfsmittel leisten zu können.
Digitalisierung
Alle österreichischen Behörden und Ämter müssen ihre digitalen Dienste barrierefrei zur Verfügung stellen. Allerdings werden dabei die notwenigen Kriterien nicht eingehalten. Während der COVID-Pandemie waren die entsprechenden Webseiten meist nicht barrierefrei. Wichtig ist auch, dass öffentliche Dienste nicht nur digital, sondern auch analog zur Verfügung gestellt werden.
Bewusstseinsbildung
Das Bild von Menschen mit Behinderungen in Österreich ist noch immer stark von Vorurteilen und Stereotypen geprägt. Besonders betroffen sind Menschen mit psychosozialen Behinderungen. Generell sind Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien stark unterrepräsentiert, auch auf deren Social Media-Kanälen. Nach wie vor werden die Personen als Mitleids- und Almosenempfänger*innen dargestellt. Es mangelt in Österreich stark an der Förderung von Strukturen zur Selbstvertretung. Außerdem findet weder Gender Mainstreaming in der Behindertenpolitik noch Disability Mainstreaming in Genderfragen statt. Behinderung ist als Querschnittsmaterie noch nicht in der österreichischen Politik und Verwaltung angekommen.
Das neue Erwachsenenschutzgesetz
Das neue Erwachsenenschutzgesetz von 2017 ist das Ergebnis eines vorbildlichen Gesetzwerdungsprozesses unter wirksamer Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Der Prozess wurde vom Justizministerium in Reaktion auf die Empfehlungen des UN-Fachausschusses 2013 angestoßen und dauerte drei Jahre. Das Ergebnis war ein deutlich besseres Gesetz, das den Grundstein für eine echte Veränderung im Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten und/oder psychosozialen Behinderungen legte.
Leider zeigen sich große Probleme in der praktischen Umsetzung. Dies liegt vor allem an den Bundesländern, die für die Serviceleistungen der unterstützten Entscheidungsfindung zuständig sind. Trotz ihrer Zuständigkeit stellen die Bundesländer nicht die notwendigen Budgetmittel hierfür zur Verfügung, auch wird die benötigte Sozialarbeit abgebaut.
Maßnahmenvollzug
Höchst problematisch ist die Situation von Menschen im Maßnahmenvollzug. Maßnahmenvollzug bezeichnet vorbeugende, freiheitsentziehende Maßnahmen zur Unterbringung von Täter*innen mit psychosozialen Behinderungen oder Lernschwierigkeiten. Mehr als die Hälfte der Menschen sind wegen geringfügiger Vergehen wie gefährlicher Drohung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt im Maßnahmenvollzug. Die Unterbringung erfolgt auf unbestimmte Zeit und ohne Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung. Betroffene Personen haben zu wenig Rechtsschutz, Überprüfungen finden zu selten und zu oberflächlich statt. Zudem herrscht ein großer Mangel an Therapiemöglichkeiten, die medizinische Versorgung ist nicht nur innerhalb des Maßnahmenvollzugs schlecht. Es gibt Berichte von Menschen, die straffällig wurden, obwohl dies mit der notwendigen therapeutischen Hilfe im Vorhinein hätte verhindert werden können.
Nach jahrelangen Vorarbeiten und Ankündigungen ist am 1. März 2023 ein Gesetz zur Reform des Maßnahmenvollzugs in Österreich in Kraft getreten. Es reicht aber bei weitem nicht aus, um die großen Mängel zu beseitigen, auch fehlt noch der angekündigte zweite Teil der Reform.
Arbeit und Beschäftigung
In Folge des Ausschlusses von Kindern mit Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem und des Mangels an inklusiven Bildungsangeboten werden Menschen mit Behinderungen oft direkt nach der Schule als „arbeitsunfähig“ eingestuft. Viel zu viele Menschen mit Behinderungen haben keinen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt. Für den Großteil bleibt so nur die Arbeit in Werkstätten. Dort erhalten sie keinen Lohn, sondern nur ein Taschengeld. Sie sind auch nicht kranken- und sozialversichert. Das ist mit ein Grund für die Altersarmut von Menschen mit Behinderungen.
Trotz der Empfehlung des UN-Fachausschusses von 2013 ist der Anteil von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten um 30 Prozent gestiegen. |
Schaffen es Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt, stoßen sie dort auf viele Barrieren. Die Maßnahmen des Arbeitsmarktservice sind nicht vollständig barrierefrei. Auch bestehen auf Seite der Arbeitgeber*innen weiterhin viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen.
Für Menschen mit psychosozialen Behinderungen gibt es zu wenige vorbeugende und frühzeitige Maßnahmen zum Erhalt des Arbeitsplatzes. Auch gibt es nicht genug individuelle und maßgeschneiderte Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Die Situation von Menschen mit Behinderungen, die keinen Arbeitsplatz haben, hat sich durch das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz von 2019 weiter verschlechtert. Wegen der neuen finanziellen Obergrenze für Familien und dem Abzug anderer Sozialleistungen bekommen Menschen mit Behinderungen nun noch weniger Unterstützung vom Staat.
Daten und Statistiken
Die Datenlage zu Menschen mit Behinderungen in Österreich ist äußerst mangelhaft. Dies betrifft vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, sowie Menschen, die in Institutionen leben. Die Methoden der Datenerhebung schließen Menschen mit Behinderungen, etwa jene, die in Institutionen leben, aus. Zudem werden Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen nur unzureichend in die Entwicklung und Durchführung von Datenerhebungen einbezogen.
Zu Menschen mit Behinderungen, die nach Österreich geflüchtet sind, gibt es gar keine verlässlichen Daten. Behinderungsarten werden bei der Erstaufnahme nicht standardmäßig erhoben. Dadurch bekommen Flüchtlinge mit Behinderungen nicht die Versorgung, die ihnen Österreich laut Völkerrecht geben müsste.