Unterricht, wie er heute erfolgt, muss anders organisiert werden muss. Es bedarf also einer Systemveränderung. Regelschulen müssen ihre Infrastruktur, Methoden, Lernmaterialien und Personalpolitik auf alle Schüler*innen abstimmen und dafür sorgen, dass sich alle wohlfühlen.
Wovon sprechen wir eigentlich?
Die Sonderschule hat eine lange Geschichte. Immer schon wurden Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in eigenen Schulen unterrichtet. So gab es eigene Schulen für blinde und gehörlose Kinder. Mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht wurden auch für Kinder mit kognitiven Behinderungen sogenannte Hilfsschulen eingerichtet. 1956 wurde die Sonderschule als Schulbezeichnung eingeführt.
Die Sonderschule ist heute eine Schulart der Sonderpädagogik im Bereich der Primar- und Sekundarbildung I. Kinder können dort neun Jahre Bildung erhalten. In die Sonderschule gehen Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF). Der SPF wird durch die Bildungsdirektion mittels eines Gutachtens entweder auf Antrag der Eltern oder von Amts wegen festgestellt. Der SPF wird dann erteilt, wenn eine Schülerin oder ein Schüler dem Unterricht ohne sonderpädagogische Förderung / Unterstützung wahrscheinlich nicht folgen kann. Gründe dafür sind nicht nur vorübergehende körperliche, geistige oder psychische Funktionsbeeinträchtigungen oder Beeinträchtigungen der Sinnesfunktionen
Zudem zeigt sich, dass Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache sowie mit einer Staatsbürgerschaft außerhalb der/dem EU/EWR häufiger einen SPF zugesprochen bekommen als andere Kinder. Derzeit läuft eine Evaluierungsstudie zum SPF über die wir zu gegebener Zeit berichten werden.
Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf können ihre neunjährige Schulpflicht auch in Volksschulen, Mittelschulen, Unterstufen der allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS), Polytechnischen Schulen und einjährigen Haushaltungsschulen erfüllen. Mit Zustimmung des Schulerhalters und der zuständigen Schulbehörde können sie ein freiwilliges elftes und zwölftes Schuljahr an allgemeinen Schulen besuchen. Außer in Wien, wird diese Zustimmung meist erteilt.
Ob ihre Kinder in der Sonderschule unterrichtet werden sollen, oder in einer Regelschule, können die Eltern entscheiden. Um diese Entscheidung treffen zu können, erhalten Eltern umfassende Beratung, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Haben die Eltern wirklich ein Wahlrecht?
Die Beratungen werden von Eltern oft als ungenügend wahrgenommen, sie fühlen sich nicht ausreichend informiert. Darüber hinaus stehen den Eltern keine qualitativ gleichwertigen Angebote zur Auswahl, da Rahmenbedingungen, Ausstattung, personelle Ressourcen und Fördermöglichkeiten in der Regelschule häufig nicht mit den Angeboten in einer Sonderschule vergleichbar sind. Daher wird sehr schnell empfohlen, die Sonderschule mit ihren umfassenden Angeboten zu wählen.
Es gibt Behindertenvertreter*innen, die dafür plädieren, das Wahlrecht der Eltern zwischen Sonderschule und Allgemeiner Schule abzuschaffen, denn mit diesem würde der Inklusiven Schule kein großer Dienst geleistet werden. Das Elternwahlrecht würde nur als Vorwand verwendet, um das Sonderschulsystem aufrechtzuerhalten. Auch die UN-Behindertenrechtskommission in Genf sieht darin einen Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und zum fundamentalen Menschenrecht auf inklusive Bildung von allen Lernenden.
Nicht zu übersehen ist diesem Zusammenhang, dass das Nebeneinander von einem segregierten Sonderschulsystem und einem Regelschulsystem sehr teuer kommt und dadurch auch die Ausstattung für eine qualitativ hochwertige inklusive Pädagogik in den Regelschulen zu kurz kommt.
Was funktioniert in der Regelschule nur sehr schlecht?
Nach wie vor hindern viele Barrieren Kinder und Jugendliche daran, die Schule ihrer Wahl aufzusuchen. Dazu zählen nicht nur räumliche Hindernisse, sondern auch die fehlende Ausstattung (Materialien für inklusiven Unterricht, barrierefreie Technologien, geeignete Betreuungsangebote…). Nicht zuletzt sind es aber oft die Barrieren in den Köpfen vieler, die das Gemeinsame verhindern.
Viele Schulen sind in alten Gebäuden eingerichtet. Nicht nur, dass der Zugang zur Schule nur über Treppen möglich ist, sind auch im Inneren des Gebäudes eine Vielzahl an Treppen, die ohne Lift überwunden werden müssen. Toilette-Anlagen sind für Kinder mit Gehbehinderung oder blinde Kinder nicht selbständig benutzbar und Waschmöglichkeiten nicht unterfahrbar.
Ein großes Problem vor allem für berufstätige Eltern ist, dass keine therapeutischen Angebote im Rahmen der Regelschule bestehen, die aber in einer Sonderschule sehr wohl angeboten werden.
Durch die fehlende Nachmittags- und Ferienbetreuung in der Regelschule wird es für Eltern nicht leicht, einer Erwerbsarbeit in Vollzeit nachzugehen. Auf Grund historischer, soziokultureller und wirtschaftspolitischer Gegebenheiten sind es meist die Mütter, die die Pflege und Betreuung des behinderten Kindes übernehmen. Wenn sie alleinerziehend sind, geraten sie sehr schnell in die Armutsfalle. Aus dieser kommen sie meist ihr ganzes Leben nicht mehr heraus. Dringend notwendige Therapien, die häufig sehr teuer sind, sind dann ebenfalls nicht finanzierbar.
Mangels bedarfsorientierter Unterstützung im Schullalltag können Kinder mit Behinderungen bei Schulveranstaltungen sehr oft nicht teilnehmen. Entweder sorgen Eltern selbst für Unterstützung oder ihr Kind muss eben zu Hause bleiben.
Noch immer gibt es in Österreich kein einheitliches System schulischer Assistenz: Neun Bundesländer mit neun unterschiedlichen Regelungen! Festzustellen ist, dass Assistenz bzw. Schulassistenz selten im tatsächlich benötigten Ausmaß gewährt wird.
Trotz integrativem Unterricht werden Kinder weiterhin in vielen Unterrichtsfächern aus dem Klassenverband geholt und segregiert unterrichtet. Dadurch werden alle Kinder benachteiligt und es begünstigt einen Nährboden für Ausgrenzung und Mobbing durch Klassenkameraden. Die segregierenden Unterrichtseinheiten lassen das „Anderssein“ im Vordergrund stehen.
Warum entscheiden sich Eltern für die Sonderschule?
Für wenige Elternteile ist die Sonderschule die erste Wahl für die Beschulung ihres Kindes. Durch negative Erfahrungen in der Regelschule oder durch tendenzielle Beratung zur Sonderschule entscheiden sie sich mangels Alternativen für diesen Weg. Die Umstände geben ihnen dann auch leider Recht.
Durch gute Rahmenbedingungen wie Therapieangebote, Fördermöglichkeiten und Nachmittagsbetreuung bekommen nicht nur Schüler*innen optimale Bedingungen für ihre Bildung, sondern es wird die gesamte Familie entlastet.
Den Sonderschulen stehen mehr hochqualifizierte personelle Ressourcen zur Verfügung, wodurch umfassender Fördermöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden können. Ebenso besteht meistens die Möglichkeit, Therapien in Anspruch zu nehmen.
Durch kleine Gruppengrößen und bessere räumliche Bedingungen für Therapien und Rückzugsmöglichkeiten, haben Kinder und Jugendliche weit besser die Gelegenheit in Ruhe ihr Lernziel zu verfolgen.
Soziale Aspekte, wie z.B. die gute Eingebundenheit in der Gruppe oder auch die Möglichkeit eher Freundschaften in der Schule schließen zu können, sind für viele Eltern wesentliche Vorteile, um sich für die Sonderschule zu entscheiden.
Die Nachteile, nämlich, dass ihre Kinder in der Sonderschule keinen Kontakt zu Kindern ohne Behinderung haben und dadurch auch nicht voneinander lernen können oder auch die Problematik der Stigmatisierung durch den Besuch der Sonderschule, nehmen Eltern dafür in Kauf. Auch bedenken sie nicht, dass mit dieser Entscheidung der weitere Lebensweg für die meisten Kinder mit Behinderungen vorgegeben ist. Nach der Sonderschule bleibt meist nur der Weg in die Arbeitsunfähigkeit und in Werkstätten, in denen sie arbeiten und statt einem Lohn ein kleines Taschengeld erhalten. Sie sind weder selbständig krankenversichert noch pensionsversichert. Sie bleiben ein Leben lang von ihren Eltern abhängig oder auf dem finanziellen Niveau von Sozialhilfeempfängern.
Internationale Verpflichtungen
Österreich hat sich mit Unterzeichnung und Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystems auf allen Ebenen einzurichten. Dazu gehören Vorschulbildung, Grund- und weiterführende Bildung sowie Hochschulbildung, berufliche Bildung und lebenslanges Lernen, außerschulische und soziale Aktivitäten für alle Lernenden, einschließlich Menschen mit Behinderungen, frei von Diskriminierung und chancengleich mit anderen.
Bildungseinrichtungen müssen so gestaltet werden, dass Sonderschulen oder Sonderkindergärten nicht mehr benötigt und besucht werden.
Dennoch bleibt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in eine Sonderschule gehen in den letzten Jahren gleich.
Die Agenda 2030 der UNO hat 17 globale Nachhaltigkeitsziele festgelegt, wie Ungerechtigkeit bekämpft, die Klimakatastrophe verhindert und die Welt zu einem lebenswerten und gerechten Ort für alle gemacht werden kann.
Österreich hat sich gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung unter dem Titel „Transformation unserer Welt“ verpflichtet.
Mit dem „Ziel 4“ soll bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen sichergestellt werden.
Im Weltbildungsbericht 2020 der UNESCO ist die zentrale Empfehlung an alle Bildungsakteure, ihr Verständnis von inklusiver Bildung zu erweitern, um alle Lernenden miteinzubeziehen, unabhängig von ihrer Identität, ihrem Hintergrund oder ihren Fähigkeiten. Weiter wird im Bericht festgehalten, dass eine Debatte über die Vorteile inklusiver Bildung zu führen, als gleichbedeutend mit einer Debatte über die Vorteile der Abschaffung der Sklaverei oder der Apartheid betrachtet werden kann. Inklusive Bildung ist ein Prozess, kein Endpunkt.
Viele Veränderungen auf diesem Weg sind kostenlos: in Bezug auf das Handeln von Lehrkräften, das Leitbild, welches Schulleiterinnen und Schulleiter für ihre Lernumgebungen schaffen, die Schulwahl durch Familien und unsere Entscheidung, was wir als Gesellschaft für unsere Zukunft wollen.
Wie kann es funktionieren?
Inklusive Bildung bedeutet, dass alle Menschen an qualitativ hochwertiger Bildung teilhaben und ihr Potenzial voll entfalten können. Inklusion beinhaltet das Recht auf gemeinsamen Unterricht in einer Regelschule.
Ziel einer inklusiven Bildung ist, Kinder zu einer bestmöglichen Entwicklung, einem besseren sozialen Miteinander und damit einer über die Schule hinausgehenden gesellschaftlichen Teilhabe zu verhelfen. Sie sollen voneinander – miteinander – gemeinsam lernen.
Evident ist, dass dazu der Unterricht, wie er heute erfolgt, anders organisiert werden muss, es bedarf also einer Systemveränderung. Es müssen Regelschulen ihre Infrastruktur, Methoden, Lernmaterialien und Personalpolitik auf alle Schüler*innen abstimmen und dafür sorgen, dass sich alle wohl fühlen.
Entscheidend für das Gelingen einer inklusiven Schule ist vorrangig eine inklusive und wertschätzende Haltung aller Beteiligten gegenüber allen Kindern, aber auch die notwendigen Rahmenbedingungen, wie finanzielle Absicherung und umfassend qualifiziertes Personal.
Alle Kinder müssen bei der Beurteilung mit ihren Stärken und Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen. Leistungsbeurteilungen und Unterricht sind daher stärkenorientiert abzufassen. Genauso wichtig ist, dass das Kind in der Gruppe am gesamten Schulleben teilnimmt. Daran haben alle am Prozess beteiligten Personen mitzuwirken.
Eine gute Lösungsmöglichkeit wären heterogene Mehrstufenklassen, in denen Unterstützung untereinander wichtig ist. Es sollen Kinder zu selbstgesteuertem und zielorientiertem Lernen angeleitet werden. Alle Kinder sind in alle Gruppenprozesse mit einzubeziehen. Lernfortschritte werden im jeweils individuellen Tempo der einzelnen Schüler und Schülerinnen erreicht. So kann beispielsweise von einem gemeinsamen Oberthema ausgehend mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen oder gestuften Aufgaben auf jeden Entwicklungsstand der Kinder eingegangen werden. Damit würde sich auch ein Sonderschullehrplan erübrigen. In heterogenen Gruppen lernen Kinder besser, denn Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Individualität. Hirnforschungsergebnisse zeigen, dass Kinder am besten voneinander lernen, wenn das Gegenüber anders ist (älter, jünger, mit anderen Begabungen…).
Weitere wesentliche Faktoren für ein gutes Gelingen sind eine gemeinsame, multiprofessionelle Arbeit in der Klasse durch Teamteaching und Kooperationen mit den unterschiedlichsten Partnern, die die Ebene Schule als gemeinsamer Lernort und auch außerschulische Einrichtungen und Personen miteinbeziehen.
Es gibt bereits viele Materialien und Literatur sowie Fort- und Weiterbildungsangebote, die zeigen, wie Inklusion gelingen kann.
Eine Schule die einbezieht, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die niemanden ausschließt. Dadurch, dass Kinder schon in der Schule lernen gemeinsam zu lernen und zu spielen, werden sie es auch in Zukunft in allen Lebensbereichen als normal empfinden, miteinander zu leben.
Es braucht die gemeinsame Schule für alle. Der Schultyp Sonderschule muss der Vergangenheit angehören, er muss abgeschafft werden. Daher sind die ausschließenden, exkludierenden Sonderschulen zu Regelschulen weiterzuentwickeln. Nur so wird sichergestellt, dass jedes Kind seinen Platz im gemeinsamen, solidarischen Miteinander bekommt.
von Dr. Christina Meierschitz