Am 12. Dezember 2023 wurde in der Wirtschaftsuniversität Wien eine Studie präsentiert, in deren Rahmen ein Kostenvergleich zwischen der aktuellen Entlohnung von Menschen mit Behinderungen in Tages- und Beschäftigungsstrukturen mittels „Taschengeld“ einer sozialversicherungspflichtigen Entlohnung mittels „Lohn“ gegenübergestellt worden war.
Das Kompetenzzentrum für Nonprofit Organisationen und Social Entrepreneurship (NPO-Kompetenzzentrum) an der Wirtschaftsuniversität Wien führte im Auftrag des Sozialministeriums eine Studie durch, in deren Rahmen das Forschungsteam um Christian Grünhaus, Selma Sprajcer und Benedikt Nutzinger Tages- und Beschäftigungsstrukturen tätige Menschen die Kosten einer sozialversicherungspflichtigen Entlohnung von Menschen mit Behinderungen in Tages- und Beschäftigungsstrukturen berechnet und analysiert hatte.
Aufzeichnung der Pressekonferenz
Rede Klaus Widl, Präsident Österreichischer Behindertenrat
Rund 28.000 Menschen mit Behinderungen sind derzeit in Tages- und Beschäftigungsstrukturen der Bundesländer tätig. Je nach Schweregrad der Behinderung und individuellen Fähigkeiten unterscheidet sich das Angebot: Es reicht von basalen Förderungen für Personen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf über Beschäftigungstherapien bis hin zu beruflichen Qualifizierungsangeboten und arbeitsmarktähnlichen Tätigkeiten. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist dabei meist von „Werkstätten“ die Rede. Im Rahmen der dortigen Beschäftigung sind Menschen mit Behinderungen unfallversichert und bekommen für ihre Tätigkeiten ein Taschengeld, das je nach Bundesland 35 bis knapp 100 Euro pro Monat ausmacht.
Ausgehend von langjährigen Forderungen von Selbstvertreter*innen und Behindertenorganisationen sieht das aktuelle Regierungsprogramm 2020-2024 der Bundesregierung vor, dass auch Beschäftigte in Tages- und Beschäftigungsstrukturen in Zukunft eine Entlohnung mit sozialversicherungsrechtlicher Absicherung anstelle eines Taschengeldes erhalten sollen. Die dazu notwendigen Schritte sollen gemeinsam mit den dafür zuständigen Bundesländern erarbeitet werden.
Selma Sprajcer vom WU Kompetenzzentrum für Nonprofit-Organisationen und Social Entrepreneurship wurde im Jahr 2021 vom Sozialministerium beauftragt, gemeinsam mit ihren Kollegen Christian Grünhaus und Benedikt Nutzinger eine Studie durchzuführen, um die finanziellen Auswirkungen einer solchen Umstellung zu berechnen. Die Forscher*innen konnten hierfür auf einen eigens erstellten Individualdatensatz zurückgreifen. Benedikt Nutzinger, einer der Studienautoren, führt dazu aus: „Die Herangehensweise über Individualdaten ließ weit genauere Berechnungen zu als nur über Durchschnitte zu gehen, was die Qualität der Ergebnisse steigert und Freude bei der Analyse machte.“
Wer gewinnt, wer verliert?
Die Forscher*innen erklären, sie hätten für ihre Berechnungen den derzeitigen Ist-Zustand mit einem Alternativ-System verglichen, bei dem eine Entlohnung in der Höhe von 1.180 Euro brutto (14-mal pro Jahr) das bisherige Taschengeld ersetzen würde. Der Betrag sei so festgelegt worden, da laut den Autor*innen ab dieser Höhe vielfach keine weiteren Leistungen aus der Sozialhilfe bezogen werden müssen. Doch während diese Ansprüche wegfallen würden, biete das Alternativ-System die Möglichkeit, Versicherungszeiten zu sammeln und damit einen Anspruch auf eine Alterspension zu erwerben.
Für Menschen mit Behinderungen würde die Einführung eines Lohnes zu einem deutlichen Anstieg des Einkommens führen – die deutlich über dem Taschengeld liegende Entlohnung würde also Kürzungen bei Transferleistungen wie Sozial- oder Familienbeihilfe überkompensieren. Die betroffenen Personen könnten mit einem durchschnittlichen Plus von rund 188 Mio. Euro pro Jahr rechnen. „Das sind immerhin rund 5.240 Euro zusätzliches Einkommen im Jahr für eine durchschnittliche Person mit Behinderung“, betont Studienautor Christian Grünhaus.
Von der Umstellung würden aber nicht nur Menschen mit Behinderungen finanziell profitieren – sondern auch die Sozialversicherung, so die Studienautor*innen. Einerseits könnten Menschen mit Behinderungen mit deutlich höheren Sozialversicherungsbeiträgen rechnen, andererseits würden die Ausgaben für Waisen- und Invaliditätspensionen sinken. Der Mehraufwand für Alterspensionen wäre demgegenüber geringer, da Menschen mit Behinderungen oft eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung aufweisen. Insgesamt würde die Sozialversicherung mit einem Plus von durchschnittlich 209 Mio. Euro pro Jahr sehr positiv aussteigen.
Auch auf den Bund würde sich die Systemumstellung minimal positiv auswirken, so die Berechnung: einerseits durch höhere Lohnsteuereinnahmen und Dienstgeberbeiträge, andererseits durch geringere Ausgaben für die Familienbeihilfe. Mit den höheren Ausgaben gegengerechnet, ergäbe sich für den Bund ein Einnahmenzuwachs von durchschnittlich 2,7 Mio. Euro pro Jahr.
Da die Tages- und Beschäftigungsstrukturen in Österreich im Kompetenzbereich der Bundesländer liegen, hätten diese allerdings als einzige Stakeholder mit Mehrkosten zu rechnen. Insgesamt würde sich für die Länder ein Minus von rund 402 Mio. Euro durchschnittlich pro Jahr ergeben. Die höheren Kostenbeiträge, die von den Personen in Werkstätten an die Länder fließen, aber auch die geringeren Sozialhilfeausgaben der Länder, können die deutlich gestiegenen Ausgaben für die im Alternativ-System eingeführte Entlohnung bei weitem nicht kompensieren.
Die Trägerorganisationen der Tages- und Beschäftigungsstrukturen – zumeist Nonprofit-Organisationen – könnten hingegen als Durchläufer betrachtet werden: Sie hätten kaum die Möglichkeit, aus eigenen Mitteln eine Entlohnung zu tragen. Darum werden sie für die notwendigen Mittel auf die Länder angewiesen sein. Die Trägerorganisationen würden sich allerdings die derzeit bezahlten Unfallversicherungsbeiträge ersparen, sofern die Länder dies nicht mit den Beträgen für die Entlohnung gegenrechnen.
Insgesamt müssten mit der Einführung einer sozialversicherungspflichten Entlohnung in Höhe von 1.180 Euro brutto durchschnittlich rund 573,5 Mio. Euro pro Jahr aufgewendet werden, im Vergleich zum Ist-Zustand würde die finanzielle Mehrbelastung etwa 191 Mio. Euro pro Jahr betragen. „Die finanzielle Belastung der Einführung eines sozialversicherungsrechtlichen Entgelts für Menschen mit Behinderung ist somit überschaubar, wenn Bund, Länder und Sozialversicherungen gemeinsam betrachtet werden“, führt Studienautor Christian Grünhaus aus.
Bundesregierung kündigt Gespräche an
In einem weiteren möglichen Szenario haben die Forscher*innen auch eine Entlohnung in der Höhe der Geringfügigkeitsgrenze untersucht. Insgesamt wäre hier mit einer Mehrbelastung von rund 136 Mio. Euro pro Jahr zu rechnen – also nur etwa ein Viertel weniger als in den Hauptberechnungen. Einerseits würde deutlich weniger Geld bei den betroffenen Personen ankommen, andererseits würden die Ausgaben für bestehenbleibende Pensionen und Sozialleistungen aufrecht bleiben.
Allerdings gibt Studienautorin Selma Sprajcer zu bedenken: „Die geforderte weitgehende Unabhängigkeit der betroffenen Menschen mit Behinderung vom Sozialsystem kann mit diesem Szenario nicht erreicht werden.“
Im Rahmen der Pressekonferenz haben Sozialminister Johannes Rauch sowie Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher angekündigt, auf Grundlage der Studienergebnisse nun Gespräche mit den zuständigen Bundesländern aufzunehmen. Dabei sollen die Expertise des Sozialministeriums, des Arbeitsministeriums, der Sozialversicherung und des Österreichischen Behindertenrates mit einfließen. Ein erster Zwischenbericht dieses Prozesses soll bis zum Frühsommer 2024 vorliegen.
Sprajcer S., Nutzinger B., Grünhaus C. (2023): Studie zu den Kosten einer sozialversicherungspflichtigen Entlohnung von Menschen mit Behinderungen in Tages- und Beschäftigungsstrukturen – „Lohn statt Taschengeld“. Kompetenzzentrum für Nonprofit-Organisationen und Social Entrepreneurship.
Statements zur Studie „Lohn statt Taschengeld“
Sozialminister Johannes Rauch: „Die berufliche Teilhabe ist für Menschen mit Behinderungen eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sie selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Um das zu gewährleisten, haben wir bereits viele wichtige Verbesserungen auf den Weg gebracht. Für mich ist klar: Auch in tagesstrukturellen Einrichtungen sollen Menschen mit Behinderung in Zukunft einen fairen Lohn statt Taschengeld für ihre Arbeit und eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung erhalten. Die Studienergebnisse sind dafür ein erster wichtiger Schritt. Mit dieser wissenschaftlichen Grundlage können wir nun Gespräche mit den dafür zuständigen Bundesländern aufnehmen und die weitere Vorgehensweise erarbeiten. Klar ist: Lohn statt Taschengeld ist ein wichtiger Baustein, um eine volle Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Und das muss unser aller Interesse sein.“
Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher: „Die Aufhebung der automatischen Arbeitsunfähigkeitsfeststellung für unter 25-Jährige war ein erster wichtiger Schritt, um Menschen mit Behinderungen mehr Chancen und Teilhabe am Arbeitsmarkt im Sinne einer inklusiveren Arbeitsmarktpolitik zu ermöglichen. Darüber hinaus wird es aber noch weitere Maßnahmen benötigen. Die Einführung eines fairen Lohns statt Taschengeld für Menschen mit Behinderungen, die in Tageswerkstätten arbeiten, ist ein ressortübergreifendes Anliegen dieser Bundesregierung und auch im Regierungsprogramm verankert. Die heute präsentierte Studie bietet neue wissenschaftliche Evidenzen zu den finanziellen Auswirkungen einer solchen Systemumstellung. Mit diesen Erkenntnissen verfügen wir über das notwendige Datenmaterial für die Erarbeitung weiterer Umsetzungsschritte mit den Bundesländern, den Sozialversicherungen sowie Vertreterinnen und Vertretern des Behindertenrats.“
Klaus Widl, Präsident Österreichischer Behindertenrat: „Schon seit vielen Jahren fordern wir, dass Menschen mit Behinderungen, die in Tages- und Beschäftigungsstrukturen tätig sind, entsprechend der für Österreich verpflichtenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kollektivvertraglich entlohnt und in der Sozialversicherung voll versichert werden. Mit der vorliegenden Studie wurde endlich Klarheit über die Auswirkungen der Einführung einer sozialversicherungspflichtigen Entlohnung auf die Finanzströme geschaffen. Wir erwarten uns von der Bundes- und den Landesregierungen, dass nun rasch – unter Einbindung des Österreichischen Behindertenrats – weitere Schritte gesetzt und die erforderlichen budgetären Mittel aufgestellt werden, damit Lohn statt Taschengeld und somit das verbriefte Menschenrecht, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, endlich Realität wird!“
Bernadette Kamleitner, Vizerektorin WU: „Bei zentralen gesellschaftlichen Fragen ist essenziell, Entscheidungen auf Basis von wissenschaftlicher Evidenz zu treffen. Daher freut es mich, dass die WU Forschung in der Frage der Inklusion von Menschen mit Behinderungen diese Evidenz liefern und damit einen Impuls geben kann, um politische Entscheidungen mit Weitsicht zu treffen. Dieses Projekt zeigt außerdem, dass politische Fragen oft eine wirtschaftliche Komponente haben und auch diese einer wissenschaftlichen Analyse bedarf. Das ist ein wichtiger Teil unserer Third Mission – also des Wirkens der Universität in der Gesellschaft.“
Fotos: Andrea Strohriegl
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