Das Barrierefreiheitsgesetz für digitale Anwendungen verpflichtet Unternehmen, bestimmte Produkte und Dienstleistungen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie, die für Menschen mit Behinderungen als besonders wichtig eingestuft wurden, ab 28. Juni 2025 grundsätzlich nur noch barrierefrei auf den Markt zu bringen.
Gemäß dem 2019 beschlossenen „European Accessibility Act“ müssen bestimmte Produkte und Dienstleistungen, die für Menschen mit Behinderungen als besonders wichtig eingestuft wurden, europaweit den gleichen Barrierefreiheitsanforderungen entsprechen. Dies betrifft sowohl Produkte wie PCs, Smartphones, Modems, E-Reader, Smart-TV-Geräte, Spielkonsolen, Bankomaten und Fahrkartenautomaten sowie Dienstleistungen wie E-Banking, E-Commerce, E-Ticketing, Videotelefonie, Online-Messenger-Dienste, E-Books und SMS-Dienste.
In Österreich soll diese EU-Richtlinie nun mit einem eigenen Barrierefreiheitsgesetz umgesetzt werden. Der Sozialausschuss des Nationalrats erteilte dem von der österreichischen Bundesregierung vorgelegten Entwurf am 28. Juni 2023 seine einhellige Zustimmung.
Manche Abgeordneten bedauerten zwar, dass der Entwurf nicht weitergehe, grundsätzlich wurde er aber von allen Fraktionen begrüßt. So sprach etwa die Bereichssprecherin für Menschen mit Behinderungen der ÖVP, Nationalratsabgeordnete Kira Grünberg, von einem „sehr wichtigen Gesetz“ und zeigte sich erfreut, dass dieses nun auf Schiene gebracht werde. Nationalratsabgeordnete Fiona Fiedler, Bereichssprecherin für Menschen mit Behinderungen der NEOS, hob hervor, dass das Vorhaben die Mobilität, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung fördere. Keine Mehrheit fand ein von Fiedler eingebrachter Abänderungsantrag. Auch ein Entschließungsantrag der FPÖ betreffend uneingeschränkte Bargeldzahlung blieb in der Minderheit.
Sozialminister Johannes Rauch hob hervor, dass das Gesetz ein Fortschritt sei, auch wenn es manchen zu wenig weit gehe. Zudem wies er auf Bemühungen der Regierung hin, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen zu erleichtern sowie Gleichberechtigung und Inklusion generell voranzutreiben. Als ein wichtiges aktuelles Vorhaben nannte er in diesem Zusammenhang die geplanten Neuregelungen in Bezug auf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit von Menschen mit Behinderungen. Damit würden junge Menschen mit Behinderungen bis zum 25. Lebensjahr Zugang zu Ressourcen des Arbeitsmarktservice erhalten. Eine Studie zum Thema „Lohn statt Taschengeld in integrativen Werkstätten“ soll Rauch zufolge im September vorliegen.
Im Ausschuss zur Diskussion standen der Tätigkeitsbericht der Behindertenanwaltschaft 2022 sowie verschiedene Oppositionsanträge. So geht es etwa sowohl der SPÖ als auch der FPÖ darum, Menschen, die in integrativen Werkstätten beschäftigt sind, adäquat zu bezahlen. Die NEOS vermissen Umsetzungsberichte, was den aktuellen Nationalen Aktionsplan Behinderung und seinen Vorgänger betrifft.
Neues Barrierefreiheitsgesetz für digitale Anwendungen
Mit dem neuen Barrierefreiheitsgesetz werden Unternehmen verpflichtet, ab 28. Juni 2025 grundsätzlich nur noch barrierefreie Produkte auf den Markt zu bringen, wobei sich der Geltungsbereich des Gesetzes auf von der EU-Richtlinie umfasste Produkte mit Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie beschränkt. Allerdings sind auch für diese Produkte Ausnahmen vorgesehen: Etwa in jenen Fällen, in denen die Anforderungen an die Barrierefreiheit eine grundlegende Veränderung des Wesens des Geräts bewirken oder diese zu einer unverhältnismäßigen Belastung für die betroffenen Unternehmen führten.
Bei Dienstleistungen fallen Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeiter*innen und einem Jahresumsatz bzw. einer Jahresbilanzsumme von maximal 2 Mio. € nicht unter das Gesetz. Ebenso ist ein Übergangszeitraum von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Bereits im Einsatz stehende Selbstbedienungsterminals dürfen bis 28. Juni 2040 – maximal aber bis 20 Jahre nach der ersten Ingebrauchnahme – verwendet werden.
Entsprechend dem Gesetzentwurf wird es Aufgabe der Hersteller sein, die Konformität ihrer Produkte zu bewerten und gegebenenfalls zu begründen, warum die geforderte Barrierefreiheit nicht in allen Punkten erreicht werden kann. In Verkehr gebrachte Produkte, die sich als nicht gesetzeskonform herausstellen, müssen grundsätzlich verbessert bzw. zurückgenommen werden. Zudem ist die Marktüberwachungsbehörde zu informieren. Ähnliche Pflichten sollen für Importeure gelten. Damit soll nicht zuletzt die Verfügbarkeit barrierefreier Produkte auf dem EU-Binnenmarkt erhöht werden. Mit der Einbindung von Dienstleistungen will man darüber hinaus sicherstellen, dass nicht nur das Endprodukt selbst barrierefrei ist, sondern Menschen mit Behinderungen derartige Produkte auch online kaufen können.
Zudem soll Menschen mit Behinderung das Reisen und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ermöglicht bzw. erleichtert werden, wobei die Beförderungen selbst den Erläuterungen zufolge nicht in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. Allerdings werden auch Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdienste interaktive Selbstbedienungsterminals barrierefrei umrüsten bzw. den Online-Ticketverkauf barrierefrei gestalten müssen. Ebenso sind etwaige Reiseinformationen in Echtzeit vom Gesetz umfasst. Im Bankdienstleistungsbereich haben unter anderem Identifizierungsmethoden und elektronische Signaturen barrierefrei zugänglich zu sein. Bei Kartendiensten, die Navigationszwecken dienen, sollen barrierefreie Alternativen zu komplexen Funktionen mit Basisinformationen angeboten werden.
Um Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Selbstbedienungsterminals wie Fahrkartenautomaten, Bankomaten oder Check-In-Automaten zu erleichtern, müssen die Betreiber der Geräte künftig überdies Informationen über die bauliche Umwelt, etwa via Website, bereitstellen. Das betrifft etwa den (stufenlosen) Zugang, die Gerätehöhe, Wendebereiche oder vorhandene Orientierungssysteme.
Marktüberwachung durch das Sozialministeriumservice
Für die Marktüberwachung wird das Sozialministeriumservice zuständig sein. Es kann – abhängig von der Größe des Unternehmens und von der Art des Verstoßes – auch Verwaltungsstrafen von bis zu 80.000 € verhängen, wobei Hersteller, Dienstleistungserbringer und Importeure zunächst dazu aufgefordert werden sollen, geeignete Schritte zu setzen, um die Gesetzeskonformität des Produkts bzw. der Dienstleistung herzustellen. Als letztes Mittel wären auch ein Produktrückruf bzw. die Verpflichtung zur Einstellung der Dienstleistung möglich. Gegen allfällige Bescheide des Sozialministeriumsservice werden die betroffenen Unternehmen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde einlegen können.
Verbraucher*innen werden ebenso wie der Verein für Konsumenteninformation, der Österreichische Behindertenrat, die Arbeiterkammer und die Wirtschaftskammer die Möglichkeit haben, sich niederschwellig – also ohne formelles Verfahren – an das Sozialministeriumservice zu wenden, um auf konkrete Mängel hinzuweisen. Zudem wird in den Erläuterungen auf das Zusammenspiel des Barrierefreiheitsgesetzes mit dem Behindertengleichstellungsgesetz und auf bestehende Verbrauchergesetze verwiesen, welche Konsument*innen Zugang zu außergerichtlichen Streitschlichtungsverfahren eröffnen sowie ihnen die Geltendmachung von Gewährleistungs- bzw. Schadenersatzansprüchen ermöglichen.
Breite Zustimmung zum Gesetzesvorhaben im Ausschuss
Im Zuge der Debatte betonte die Bereichssprecherin für Menschen mit Behinderungen der SPÖ, Nationalratsabgeordnete Verena Nussbaum, dass eine EU-weite Harmonisierung der Barrierefreiheitsanforderungen grundsätzlich zu begrüßen sei. Sie bedauerte allerdings, dass es sich lediglich um eine „Minimalumsetzung“ des „European Accessibility Act“ handelt. So hinterfragte sie etwa den Umstand, dass das Gesetz für den öffentlichen Verkehr selbst nicht gilt. Auch bezweifelt sie, dass Maximalstrafen von 80.000 € Wirkung zeigen.
Fiona Fiedler goss ihre Kritikpunkte in einen Abänderungsantrag, der lediglich von der Opposition unterstützt wurde und damit keine Mehrheit fand. So sprach sie sich etwa dafür aus, Produzenten bzw. Importeure zu verpflichten, Gebrauchsanleitungen und Sicherheitsinformationen in einfacher Sprache – maximal Sprachniveau B1 – bereitzustellen. Im Regierungsentwurf heißt es lediglich, dass diese klar, verständlich und deutlich sein müssen. Gleiches forderte sie für Vertragsinformationen, für die der Gesetzentwurf nur allgemein barrierefreie Versionen vorschreibt. Zudem sollten den NEOS zufolge alte Selbstbedienungsterminals maximal 15 Jahre nach ihrer ersten Inbetriebnahme ausgeschieden werden müssen.
Sie könne die Kritik von Verena Nussbaum nachvollziehen, hielt dazu Nationalratsabgeordnete Bedrana Ribo von den Grünen fest. „Wir wissen, dass das Barrierefreiheitsgesetz nicht perfekt ist“, etwa was die Höhe der Strafen betrifft, sagte sie. Man müsse aber auch sehen, dass mit den Strafeinnahmen Teilhabeprojekte für Menschen mit Behinderungen finanziert werden könnten. Das Gesetz sei Rinbo zufolge ein Kompromiss.
PÖ-Nationalratsabgeordneter Peter Wurm nutzte die Debatte, um einen Entschließungsantrag betreffend uneingeschränkte Bargeldzahlung einzubringen. Bargeld habe gerade auch für Menschen mit Behinderungen eine große Bedeutung, das sei ein Punkt, der vielfach unterschätzt werde, meinte er. Konkret forderte Wurm unter anderem die Cent- und Euro-Bargeldmünzen in ihrem aktuellen Bestand zu erhalten und einen uneingeschränkten Bargeldzahlungsverkehr in Österreich und Europa verfassungsrechtlich zu verankern.
Opposition fordert adäquaten Lohn für Arbeit in integrativen Werkstätten
Mit der Regierungsvorlage mitverhandelt wurden mehrere Anträge der Opposition, die alle vertagt wurden. So drängt die SPÖ etwa darauf, Änderungen bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Menschen mit Behinderung vorzunehmen, Menschen in integrativen Werkstätten einen adäquaten Lohn zu zahlen, einen Inklusionsfonds einzurichten und das geltende Ausgleichstaxen-System durch ein Bonus-System zu ersetzen. Auch der FPÖ ist ein Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ein Anliegen. Zudem ist es den Freiheitlichen ein Dorn im Auge, dass es für die Einstufung als „begünstigt Behinderter“ bzw. als „begünstigt Behinderte“ in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Kriterien gibt. Die NEOS mahnen fehlende Umsetzungsberichte ein, und zwar sowohl in bzeug auf den Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012 bis 2020 also auch dessen Nachfolger für die Periode 2022 bis 2030.
Sie sei neugierig, wie die für Herbst angekündigte Neuregelung der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit von Menschen mit Behinderung ausschauen werde, sagte die SPÄ-Abgeordnete Verena Nussbaum in der Debatte. Nationalratsabgeordneter Christian Ragger von der FPÖ unterstrich, seine Partei werde die Forderung nach einem adäquaten Lohn in integrativen Werkstätten so lange aufrechterhalten, bis das Vorhaben umgesetzt werde.
Seitens der Koalitionsparteien machten Bedrana Ribo von den Grünen und Kira Grünberg von der ÖVP geltend, dass einige der aufgeworfenen Punkte in dieser Legislaturperiode angegangen würden und nannten als Beispiel die Frage der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Zudem verwies Ribo auf das Pilotprojekt zur Persönlichen Assistenz. Der Bund stelle hier für einen Bereich Mittel bereit, der eigentlich in die Kompetenz der Länder falle. Sie hoffe, dass das „irgendwann einmal“ in einem Inklusionsfonds ende.
Was die schon seit langem diskutierte Forderung nach Lohn statt Taschengeld in integrativen Werkstätten betrifft, machte Ribo geltend, dass jeder, der sich näher mit diesem Thema beschäftige, wisse, wie komplex dieses sei, etwa was Finanzströme und Beihilfen betrifft. Sozialminister Johannes Rauch stellte die Vorlage eines ersten Umsetzungsberichts zum Nationalen Aktionsplan Behinderung II bis Jänner 2024 in Aussicht.
Service-Links
Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrats zum Entwurf des Barrierefreiheitsgesetzes – BaFG