Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrats zum Entwurf des Nationalen Aktionsplans 2022-2030
Der Österreichische Behindertenrat ist die Interessenvertretung der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen in Österreich. In ihm sind über 80 Mitgliedsorganisationen organisiert. Auf Grund der Vielfalt der Mitgliedsorganisationen verfügt der Österreichische Behindertenrat über eine einzigartige Expertise zu allen Fragen, welche Menschen mit Behinderungen betreffen.
Der Österreichische Behindertenrat erlaubt sich, die Stellungnahme wie folgt auszuführen:
Allgemeines
Vorweg möchte der Österreichische Behindertenrat auf allgemeine Problemfelder eingehen:
Partizipation
Positiv zu erwähnen ist die ursprüngliche Intention des Sozialministeriums, einen breit angelegten partizipativen Prozess in die Wege zu leiten und den Inhalt des NAP 2022-2030 in 26 Teams erarbeiten zu lassen. Echte Partizipation bedeutet, dass zivilgesellschaftliche Beiträge ernst genommen und diskutiert werden und eine Nicht-Annahme nachvollziehbar begründet wird.
Das Sozialministerium und einige wenige weitere Bundesministerien haben dementsprechende Prozesse für die Erarbeitung ihrer Beiträge aufgesetzt. Leider sind jedoch viele Bundesministerien diesem Aufruf nicht gefolgt und wurden Beiträge zu essentiellen Themenbereichen, wie beispielsweise Bildung, Kinder und Jugendliche oder Frauen trotz zahlreicher Kontaktversuche von zivilgesellschaftlicher Seite ohne echte Partizipation erstellt.
Wieviel Partizipation in den Teams der Länder stattgefunden hat, ist für den Österreichischen Behindertenrat nicht nachvollziehbar. Direkt an den Behindertenrat hat sich jedenfalls nur ein Bundesland gewandt.
Auch das Redaktionsteam, in dem Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der staatlichen Überwachungsmechanismen (Behindertenanwaltschaft und Monitoringausschuss) vertreten waren, konnte den ursprünglichen Mangel an Partizipation nicht ausgleichen, da es zu diesem Zeitpunkt nur mehr darum ging, bereits von der jeweiligen politischen Ebene abgenommene Beiträge zu einem Gesamtwerk zusammenzufügen. Eine wesentliche inhaltliche Einflussnahme seitens der Zivilgesellschaft war nicht mehr möglich.
Einbezug der Länder
Der ursprüngliche Plan des Sozialministeriums, diesmal die Länder von Anfang an einzubeziehen, war zu begrüßen. Jedoch hat sich sehr rasch herausgestellt, dass eine österreichweite Vereinheitlichung der Situation und der Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht möglich ist, wenn jedes Bundesland einen Beitrag für sich selbst schreibt. Da es trotz zahlreicher Apelle aus der Zivilgesellschaft nicht möglich war, dass sich die Bundesländer auf einen gemeinsamen Beitrag einigen konnten, ist leider davon auszugehen, dass es auch in Zukunft keine österreichweit einheitlichen Regelungen für Menschen mit Behinderungen geben wird.
Besonders krass in dem Zusammenhang ist, dass sich Niederösterreich offenbar dafür entschieden hat, bei fast allen Maßnahmen in Länderverantwortlichkeit nicht mitzumachen. Dies muss als inakzeptabel hervorgekehrt werden.
Indikatoren
Es ist nicht gelungen entsprechende Indikatoren für den NAP 2022-2030 zu entwickeln. Die Indikatoren im vorliegenden Entwurf sind entweder nicht aussagekräftig, oder es sind gar keine vorhanden. Indikatoren sind jedoch der Schlüssel dazu, die Zielerreichungen zu messen und damit die Umsetzung des NAP 2022-2030 transparent darzustellen.
Da es ganz offensichtlich für die Ersteller*innen des NAP nicht möglich ist, entsprechende Indikatoren zu entwickeln – gleiches gilt im Übrigen auch für die Zivilgesellschaft – regt der Österreichische Behindertenrat dringend an, von Wissenschaftler*innen (die eventuell auch mit der Evaluierung befasst werden) entsprechende Indikatoren entwickeln zu lassen.
Kostenschätzung und Finanzierung
Es fällt auf, dass in der Spalte Kosten nur in seltenen Fällen konkrete Kosten angeführt sind. Dies wäre aber die Grundlage dafür, Budgetplanungen vornehmen zu können und ist dies daher dringend nachzuholen. In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Aussage „Bedeckung aus den laufenden Budgets“ eine Themenverfehlung darstellt. Die Frage wie hoch die Kosten sind und die Frage aus welchem Topf sie bedeckt werden, sind zwei unterschiedliche. Wie allen bewusst ist, wird eine ambitionierte Umsetzung des NAP Geld kosten. Daher ist es schon jetzt unerlässlich, sich auch Gedanken über die Finanzierung (z.B. in Form eines Inklusionsfonds oder über die Finanzausgleichsverhandlungen) zu machen.
Zeiträume
In der Spalte „Zeit“ werden lange Zeiträume sowohl für laufende Maßnahmen als auch für terminisierte Maßnahmen verwendet. Damit ist oftmals nicht klar, ob es sich um eine laufend zu machende Maßnahme handelt oder ob für die Umsetzung wirklich mehrere Jahre Zeit bleiben. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, regt der Behindertenrat an, bei laufenden Maßnahmen in der Spalte „Zeit“ das Wort „laufend“ einzutragen und die Angabe von Jahreszahlen nur bei terminisierten Maßnahmen zu verwenden.
2. Teil des NAP
Der vorliegende Entwurf gliedert sich in einen ersten und einen zweiten Teil, wobei nur der erste Teil von der Redaktionsgruppe bearbeitet wurde und oftmals aus gutem Grund (z.B. Widerspruch zur UN-BRK) die Textpassagen aus dem ersten Teil in den zweiten Teil verbannt wurden. Um Missverständnisse und allfällige Widersprüche bereits im Vorfeld auszuräumen, empfiehlt der Österreichische Behindertenrat, dass nur der erste Teil des NAP vom Misterrat beschlossen wird und der 2. Teil als Anhang (ohne verbindliche Wirkung) publiziert wird.
Im Übrigen möchte der Österreichische Behindertenrat darauf hinweisen, dass im Vorfeld der Erarbeitung des NAP 2022-2030 durch die Universität Wien eine Evaluierungs-Studie zum „alten“ NAPs erstellt wurde. Die Empfehlungen dieser Studie haben jedoch in wesentlichen Bereichen (z.B. Partizipation, Indikatoren, Finanzierung, usw.) zu wenig Berücksichtigung gefunden.
Zu den einzelnen Kapiteln
Im Detail verweist der Österreichische Behindertenrat auf die beiliegende Kommentierung des NAP-Entwurfs, in der detailliert der Handlungsbedarf am Text und fehlende Ziele und Maßnahmen angeführt sind.
Nachfolgend finden Sie die – aus Sicht des Behindertenrats – größten Knackpunkte des vorliegenden Entwurf, aufgeschlüsselt nach Kapiteln.
Kapitel 1
Hier sind insbesondere das Unterkapitel zu Kindern und Jugendlichen bzw. zu Frauen zu erwähnen. Beide greifen viel zu kurz, wodurch sie nicht ausreichend sind, um die UN-BRK umzusetzen und damit die Situation von Kindern und Jugendlichen bzw. Frauen mit Behinderungen nachhaltig zu verbessern. Zahlreiche Themenfelder werden gänzlich ausgespart (z.B. barrierefreie Freizeitaktivitäten, Recht auf Elternschaft, usw.) oder es gibt zu den Zielen keine Maßnahmen. Daher regt der Behindertenrat an, die Unterkapitel zu überarbeiten, eine gute Basis dafür sind die vom Behindertenrat zu den Themen erarbeiteten Papiere zu Frauen mit Behinderungen (NAP Frauen mit Behinderungen und Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen (NAP Kinder und Jugendliche mit Behidnerungen).
Aber auch bei den Unterkapiteln zu Migrant*innen und Asylwerber*innen mit Behinderungen bzw. zur europäischen und internationalen Behindertenpolitik und der EZA sind vor allem die Maßnahmen noch ausbaufähig (siehe dazu das Papier des Behindertenrats zu den Themen NAP Europa und Internationales).
Kapitel 2
Hier sieht der Österreichische Behindertenrat im Unterkapitel zum Erwachsenenschutzrecht einen Nachschärfungsbedarf, weil Angebote zur unterstützten Entscheidungsfindung nur sehr zögerlich auf- und ausgebaut werden sollen. Im Unterkapitel „Schutz vor Gewalt und Missbrauch“ besteht ein Bedarf an zusätzlichen Maßnahmen, um den mit der Gewaltstudie offengelegten Problemen adäquat zu begegnen.
Kapitel 3
Exemplarisch ist zu diesem Kapitel anzumerken, dass die Maßnahme zur Vereinheitlichung der Bauordnungen, auf einem diskriminierungsfreien Niveau, zu vage formuliert ist. Im Bereich Verkehr fehlt das Ziel, eine inklusive Mobilitätskette zu schaffen (siehe dazu NAP-Verkehr_EB.docx (live.com)), im Bereich Kultur fehlen Maßnahmen zur Umsetzung der selbst gesteckten Ziele und im Unterkapitel Tourismus sind weder Ziele noch Maßnahmen vorhanden, um wirklich barrierefreie Tourismusangebote für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
Weiters bedarf es im Unterkapitel 2 (Leistungen und Angebote von Bund, Länder und Gemeinden) und 9 (Informationsgesellschaft) noch weiterer ambitionierter Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen zügig einen umfassend barrierefreien Zugang zu Informationen sowie zu Gütern und Dienstleistungen im digitalen Bereich zu gewähren. Anregungen für weitere Maßnahmen können dem vom Behindertenrat erarbeiten Papier zu diesem Thema entnommen werden (NAP Digitalisierung und KI).
Kapitel 4
Der vorliegende Entwurf zum Bereich Bildung erfüllt in keiner Weise die Anforderungen von Art 24 UN-BRK, dessen Ziel die Schaffung eines Bildungssystems ist, an dem Kinder mit und ohne Behinderungen chancengleich teilhaben können. So gibt es keine Weiterentwicklung der im ersten NAP festgelegten Ansätze eines inklusiven Systems, es wird sogar das ausgrenzende Sonderschulsystem gefestigt.
Dies ist z.B. daran erkennbar, dass Inklusion nur für die Kinder und Jugendlichen angedacht ist, die den Lehrstoff der jeweiligen Schulart folgen können und kein Plan zur schrittweisen Abschaffung der Sonderschulen skizziert wird.
Da dieses Kapitel Art 24 UN-BRK widerspricht, wird es vom Behindertenrat zur Gänze abgelehnt und wird ersucht, das Kapitel neu zu konzipieren. Eine gute Vorlage dafür bietet das vom Behindertenrat ausgearbeitete Papier zum Thema Bildung (siehe NAP AG Bildung).
Kapitel 5
In diesem Kapitel fehlen visionären Maßnahmen des AMS, die zu einer Erreichung des Ziels, dass die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen an jene von Menschen ohne Behinderungen angepasst wird, führen könnten.
Kapitel 6
Die 8 Unterkapitel stellen keinen systematischen Ansatz und keine koordinierte Strategie zur Umsetzung von Selbstbestimmtem Leben gemäß Art 19 UN-BRK dar. Der Österreichische Behindertenrat hält fest, dass Selbstbestimmtes Leben voraussetzt, dass Menschen mit Behinderungen zwischen akzeptablen Angeboten wählen können und so das in klusive Leben in der Gemeinschaft tatsächlich möglich wird.
Eine inflationäre Verwendung der Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Selbstbestimmtes Leben“ ist zu vermeiden.
Einige Unterkapitel sind rein pflegeorientiert und bilden damit im Wesentlichen einen im medizinischen Modell verankerten Status Quo ab mit kleineren Verbesserungsideen, ohne jedoch den grundsätzlich medizinisch orientierten Ansatz zu durchbrechen. Besonders fällt auch der vorsichtige Zugang zur Deinstitutionalisierung auf.
Es bedarf daher aus Sicht des Österreichischen Behindertenrats weiterer visionärer Maßnahmen, ausgerichtet am menschenrechtsbasierten Modell von Behinderung, und die Etablierung einer klaren, raschen und verbindlichen De-Institutionalisierungs-Strategie.
Kapitel 7
In diesem Kapitel sind die Maßnahmen zur Beseitigung des Mangels an psychiatrischer Betreuung (ambulant und stationär) zu wenig ambitioniert. Auch fehlen Maßnahmen, um das generelle Problem, das es in einigen Fachbereichen zu wenig Kassen-Ärzt*innen gibt, zu beseitigen. Darüber hinaus fehlen gerade bei der wichtigen Zielsetzung der umfassenden Rehabilitation für alle Menschen, unabhängig vom Versichertenstatus und der Ursache und Form der Behinderung, Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen.
Kapitel 8
In diesem Kapitel fehlen Ziele und Maßnahmen betreffend Kampagnen zur UN-BRK und die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Außerdem ist auffällig, dass es oftmals zu den (guten) Zielsetzungen keine oder nicht präzise genug formulierte Maßnahmen gibt und damit eine Zielerreichung nicht gewährleistet ist.
Mit besten Grüßen
Für das Präsidium des Österreichischen Behindertenrats
Mag. Bernhard Bruckner,
Mag. Gudrun Eigelsreiter,
Dr. Christina Meierschitz und
Mag. Christina Wurzinger